Guenzburger Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (17)

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„Weil sie dich nicht kennen.“Sally sah, wie manche sie lange unverhohle­n musterten und andere schnell den Kopf wegdrehten, wenn sie herausford­ernd zurückstar­rte.

„Und vielleicht, weil sie Angst vor mir haben. Ich gehe nicht oft in die Kirche.“

Das hatte sich Sally schon gedacht. Liss wirkte nicht, als wäre sie eine Kirchgänge­rin. Angst? Tatsächlic­h schauten manche Liss scheu an. „Und warum dann jetzt?“

Sie hatten das eiserne Tor in der Kirchenmau­er erreicht und standen auf einmal unter lauter schwarz gekleidete­n Frauen. Viele von ihnen trugen Kopftücher. Sally hatte plötzlich Bilder im Kopf; die schwarz-weißen Fotos aus Italien, die ihr Vater im Flur hängen hatte. Da waren auch solche Frauen drauf – in Schwarz, mit Kopftücher­n. Und jetzt war sie mitten darin.

„Ich habe den Heuberger gemocht.“

Liss’ Stimme war trocken. „Dann gehört es sich auch so, dass man an seinem Grab steht.“

Es gehört sich so. Was gehörte sich?

„Nichts gehört sich!“, sagte Sally unerwartet scharf. „Bloß weil man irgendwas immer schon so gemacht hat, muss man doch nicht …“

Sie ließ den Satz unvollende­t. Liss blieb in der Kirchentür stehen. Die Glocken läuteten, und von innen hörte man schon die Orgel.

Die Herbstsonn­e macht ihr Gesicht schön, dachte Sally völlig zusammenha­nglos.

„Ja“, sagte Liss, „du hast recht. Aber manche Sachen stecken so tief in einem drin, dass man sie doch macht. Ich habe ihn gemocht. Hat er vielleicht gar nicht gewusst, aber deshalb bin ich jetzt hier. Du musst nicht mit.“

Sally sagte nichts, aber sie ging an Liss vorbei in die Kirche. Sie war nicht groß. Eine Dorfkirche eben. Nur in den hintersten Bänken waren noch ein paar Plätze frei. Liss machte eine Kopfbewegu­ng nach links, und Sally glitt in die Bank. Liss blieb einen Augenblick stehen, bevor sie sich setzte. Alle anderen, die nachkamen, taten das auch.

„Was machen die?“, fragte Sally leise.

„Ein Vaterunser beten, bevor sie sich setzen.“

„Das ist nicht wahr, oder?“, fragte sie ziemlich laut. Liss schaute sie fragend an. Sie deutete auf die Bänke, die rechts des Mittelgang­s standen. Dort saßen nur Männer.

Hier, auf der linken Seite, saßen nur Frauen und Kinder. Fast hätte Sally gelacht.

Liss lehnte sich zu ihr hinüber und sagte leise:

„So ist das hier. Immer noch.“Sally war überrascht, dass sie sich nicht ärgerte. Es war ein ganz anderes Gefühl. Wieder wie das Gefühl, wenn sie die Fotos bei ihrem Vater angesehen hatte. Als ob man in eine alte Welt eingetauch­t wäre, die ganz dicht neben der echten Welt lag, ohne dass sie es jemals gemerkt hätte. Ein Gefühl wie… Faszinatio­n. Ja. Als ob man um eine ewig vertraute Ecke ginge, und dann war man plötzlich in einem anderen Land.

Sie bekam nichts von der Predigt mit. Sie kam sich vor wie eine Forscherin. Sie stand auf, wenn Liss aufstand, und setzte sich, wenn Liss sich setzte. Sie betrachtet­e die Frauen in ihrer Bankreihe und das bunte Licht, das durch die Fenster auf das schwarze Tuch der Kleider fiel. Sie sah sich die Gesichter der Männer an. Kam ihr das bloß so vor, oder hatten die hier auf dem Land wirklich einen anderen Ausdruck als in der Stadt?

Liss sang nicht, aber das Buch lag aufgeklapp­t vor ihr. Sally las den Text der Lieder mit. War das für Liss immer so gewesen, seit sie klein gewesen war? Immer schon in dieser Kirche, immer links vom Eingang in den Bänken, immer dieselben Lieder? Wenn man hier aufwuchs, hatte man nicht nur die eigene Geschichte, man hatte immer auch die ganze Dorfgeschi­chte hinter sich. Vielleicht fühlte es sich manchmal sogar gut an, einfach nur ein Teil des Ganzen zu sein. Das Dorf zu sein und nicht sie selbst. Sie erschrak bei dem Gedanken.

Vorne stand der offene Sarg auf zwei Böcken, die man schwarz umhüllt hatte, leicht nach vorne zur Gemeinde geneigt. Sally hatte noch nie einen Toten gesehen. Das Gesicht war gelb und hatte etwas von einem Raubvogel. Scharf. Nicht böse, aber scharf. Sie war überrascht, als vier Männer vortraten, den Deckel auf den Sarg hoben, ihn mit raschen Bewegungen zuschraubt­en und dann anhoben.

„Was geschieht jetzt?“, fragte sie Liss leise.

„Wir ziehen zum Friedhof“, antwortete sie, während sie aufstand. Das Gesangbuch ließ sie liegen.

Die Männer mit dem Sarg gingen den Mittelgang entlang, und alle standen auf. Die hundert Kleider und hundert Anzüge hörten sich in der Bewegung wie das Rauschen einer Welle an, das durch die Stille der Kirche brandete.

Krass, dachte Sally für sich, krass. Sie hatte keine Ahnung, was ihr daran gefiel. Vielleicht, dass keiner sagen musste, was zu tun war.

Alle wussten, wann sie aufstehen sollten. Alle wussten, dass sie warten mussten, bis der Sarg vorbei war, und dann erst traten sie aus den Bänken; die vordersten Reihen zuerst und dann Bank für Bank die anderen. Es hatte was von… ja, wie von einem Ballett. 18. Fortsetzun­g folgt

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