Guenzburger Zeitung

Ewald Arenz: Alte Sorten (20)

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Kaltes Wasser in der Nase oder an der Stirn. Wie bei Säuglingen. Das Herz wurde langsamer, und die Atmung stoppte. Wenn Babys ins Wasser fielen, dann ertranken sie nicht. Jedenfalls nicht gleich. Und bei ihr… sie spürte immer, wie ihr Herz langsamer wurde, wenn sie sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser wusch. Wie die Atmung stoppte und sie für einen Augenblick nicht atmen konnte, auch wenn sie wollte. Es war ein gutes Gefühl.

Sie zog sich an und ging hinunter in die Küche. Liss saß am Tisch, ein Bein auf den Stuhl hochgezoge­n, aß Obst mit Joghurt und trank Tee.

Sally murmelte einen Morgengruß und setzte sich auf die Bank. Sie streckte die Hand nach der Teekanne aus, aber Liss war schneller und reichte sie ihr. Liss hatte einen Verband um den linken Unterarm, nicht durchgeblu­tet, aber an drei Stellen rötlich, länglich durchschim­mernd. Sally erkannte sofort, was es war, weil sie es bei sich selbst so oft gesehen hatte.

Der erste Impuls war, aufzustehe­n und die Teekanne umzuwerfen oder auf den Boden zu schmeißen. Was sollte das? War das so eine Art… was war das? Wie krank war das? Wollte sie …

„Ey!“, sagte sie laut. „Ey, was… was soll… was ist das für ein Scheiß? Machst du einen auf …“Sie wusste nicht, was es war. Sie deutete auf Liss’ Arm.

„Findest du das irgendwie witzig oder was? Ist das… was soll die

Scheiße?“, wiederholt­e sie, weil ihr die Worte fehlten.

Liss hatte die Zeitung hingelegt. Sie strich sich mit der rechten Hand leicht über den Verband.

„Ich wollte wissen, wie es ist“, sagte sie ruhig. „Ich konnte mir das nicht vorstellen… ich wollte wissen, wie es sich anfühlt.“

„Und?“, schrie Sally, aber es war gar nicht die Wut, die sie kannte, es war eine andere Wut. Wie… wütendes Mitleid. Sie hasste es. Sie wollte wütend sein. Nur wütend. „Und? Fühlt sich geil an, ein Psycho zu sein, oder? Willkommen im Club! Willkommen im Ritzerclub.“

Liss stand auf und holte den Honig aus dem Küchenschr­ank, bevor sie antwortete.

„Es tut weh.“

„Klar tut es weh!“, rief Sally. Sie wollte schreien, aber sie war nicht mehr wütend genug. Sie war jetzt nur noch laut. „Klar tut es weh. Was hast du gedacht?“

„Nichts. Deshalb hab ich es ausprobier­t. Willst du Honig?“

„Nein!“

Sally trank einen Schluck. „Doch.“

Liss reichte ihr das Glas. Sally schraubte es auf und tunkte ihr Messer hinein, drehte es im Herausnehm­en, damit der Honig nicht tropfte, und rührte ihn dann mit dem Messer in den Tee. Liss sah ihr zu. Sally starrte herausford­ernd zurück. Sie legte das Messer auf den Teller. Plötzlich musste sie grinsen: „Das musst du nicht auch noch nachmachen.“

Liss lachte wie befreit. „Willst du sehen, wo er herkommt?“

„Wer?“

Liss deutete auf den Honig. „Du machst den selbst?“, fragte Sally überrascht, bevor sie schief lächelte und schnell fortfuhr: „Das war dumm, okay. Aber hast du wirklich Bienen?“

Liss stand auf.

„Im Garten.“

Sally trank ihren Tee aus und folgte ihr nach draußen.

Dass diese Septembert­age so leuchten konnten! Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie den Herbst irgendwann so schön gefunden hatte. Als sie klein gewesen war, ja, da hatte es manchmal letzte Urlaubstag­e gegeben, die ein bisschen von dem hatten, was sie heute spürte. Aber es war so, als wäre es umgekehrt; als hätte sie damals das schwache Echo des Gefühls empfunden, das sie heute so intensiv spürte. Was war in diesem Septemberl­euchten, in diesem hohen Himmel, in diesem Morgen? Es war, als wollte die Welt noch einmal zeigen, wie schön sie sein konnte, wie viele Farben sie hatte, wie frisch sie riechen konnte.

Liss ging vor ihr, mit diesen lässig-ruhigen langen Schritten einer großen Frau, die mit ihrer Größe kein Problem hatte. Ein Gang, den sie manchmal ziemlich cool fand. Es war blöd, vor sich selber so zu tun, als ob nicht. Merkte ja keiner. Bis Liss plötzlich stolperte und Sally lachen musste. Die Hühner schafften es immer, einem so unfassbar blöd zwischen die Beine zu laufen, dass es echt schwierig war, nicht auf sie zu treten. Liss drehte sich mit einem Lächeln um.

„Die meisten Unfälle passieren in Haus und Hof… auch den Hühnern.“

„Ja“, antwortete Sally boshaft, „ist schon ein Wunder, dass Hühner die Evolution bis heute überlebt haben.“

Liss ging an der Maschinenh­alle vorbei um die Ecke.

„Hier.“In dem Eck zwischen dem Zaun und der grob verputzten, fensterlos­en Wand der Maschinenh­alle stand eine Reihe von Kisten auf Ständern im Halbschatt­en eines großen Strauchs.

„Da sind die Fluglöcher.“Liss zeigte auf den schmalen Schlitz, den alle Kisten unten hatten. Sally hatte ihn zuerst kaum erkennen können, weil überall so viele Bienen waren, die an- und abflogen, dicht an dicht aneinander­gedrängt summten, übereinand­erkrabbelt­en und eine kompakte Traube vor jeder Kiste bildeten. Sally ging vor einer Kiste in die Hocke. 21. Fortsetzun­g folgt

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