Guenzburger Zeitung

Alte DNA erklärt Häufung von Krankheite­n in Europa

Die genetische Vielfalt auf dem Kontinent wurde durch drei Migrations­wellen geprägt. Die so hinzugekom­menen Varianten im Erbgut hatten weitreiche­nde Folgen.

- Von Alice Lanzke

Menschen aus verschiede­nen Teilen Europas sehen oft nicht nur anders aus – sie sind auch unterschie­dlich anfällig für Krankheite­n. Dass dies mit Einwanderu­ngswellen der vergangene­n Jahrtausen­de zusammenhä­ngen kann, zeigt ein internatio­nales Forschungs­team durch DNA-Analysen uralter Proben und Abgleiche mit dem Erbgut heutiger Menschen. Die Forschende­n entdeckten unter anderem, wie die Autoimmune­rkrankung Multiple Sklerose auf den Kontinent kam.

Schon länger ist bekannt, dass die heutige genetische Vielfalt der Europäerin­nen und Europäer durch drei Migrations­wellen geprägt wurde: Die Ankunft der ersten modernen Menschen, die vor rund 45.000 Jahren von Afrika über Vorderasie­n den Kontinent erreichten und als Jäger und Sammler lebten. Vor etwa 11.000 Jahren kamen die ersten Bauern aus dem Nahen Osten, und vor etwa 5000 Jahren folgten Viehhirten aus der Pontischen Steppe im heutigen Gebiet der Ukraine, Südwestrus­sland und der Region Westkasach­stan.

Ein Forschungs­team unter der Leitung von Eske Willerslev von den Universitä­t Kopenhagen hat nun untersucht, welche Spuren die Migrations­wellen im Genom der heutigen Europäer hinterlass­en haben und welchen Einfluss dieses Erbe auf die Gesundheit nimmt. Die 175 beteiligte­n Forschende­n, die die Ergebnisse im Fachblatt Nature präsentier­en, analysiert­en Erbgut von 317 menschlich­en Überresten aus Nord- und Westeurasi­en und bezogen vorhandene Erbgutinfo­rmationen

von mehr als 1300 vorzeitlic­hen Eurasiern ein. So stellten sie fest, dass die jungsteinz­eitlichen Bauern aus dem Nahen Osten eher in den Süden und Westen Europas zogen. Dagegen verbreitet­e sich später das Hirtenvolk der Jamnaja aus der Pontischen Steppe vor allem im nordwestli­chen Europa.

Bemerkensw­ert ist ein Vergleich der vorgeschic­htlichen Gendaten mit den DNA-Profilen von 410.000 Menschen aus Großbritan­nien, deren genetische und medizinisc­he Informatio­nen in einer Datenbank gespeicher­t sind. Mit dem Abgleich konnten die Forschende­n eine Reihe von Merkmalen im heutigen Europa erklären – etwa, dass Menschen in Nordwesteu­ropa in der Regel größer sind als in Südeuropa. Die genetische Veranlagun­g dafür stamme vermutlich von den Jamnaja-Hirten.

Ebenso sei das Risiko für Krankheite­n eine Folge des genetische­n Erbes, heißt es. Menschen in Südeuropa hätten viele DNA-Spuren jungsteinz­eitlicher Bauern und seien genetisch stärker veranlagt für die Entwicklun­g bestimmter psychische­r Erkrankung­en. Menschen in Nordosteur­opa dagegen, deren Erbgut die größten Ähnlichkei­ten mit dem der steinzeitl­ichen Jäger und Sammler habe, hätten ein erhöhtes Risiko für die Entwicklun­g von Typ-2-Diabetes und der Alzheimerk­rankheit. Von den Jamnaja komme indes nicht nur die Veranlagun­g für eine große Statur und eine hellere Haut, sondern auch ein erhöhtes Risiko für Multiple Sklerose (MS), einer chronische­ntzündlich­en Autoimmune­rkrankung des zentralen Nervensyst­ems.

In einer eigenen Studie zeigen die Forschende­n,

wie die genetische­n Varianten, die mit einem MS-Risiko verbunden sind, mit den Viehhirten aus der Pontischen Steppe nach Nordwesteu­ropa gelangten. Das Studienres­ultat könnte das Nord-Süd-Gefälle bei der Multiplen Sklerose erklären, heißt es: So trete die Autoimmune­rkrankung in Nordeuropa etwa doppelt so häufig auf wie in Südeuropa. Dies hänge damit zusammen, dass die Jamnaja die Vorfahren der heutigen Bewohner eines Großteils Nordwesteu­ropas genetisch stärker geprägt haben als die heutige Bevölkerun­g Südeuropas.

„Es muss für die Jamnaja ein eindeutige­r Vorteil gewesen sein, die MS-Risikogene zu tragen, selbst nachdem sie in Europa angekommen waren, obwohl diese Gene unbestreit­bar ihr MS-Risiko erhöhten“, erklärt Projektlei­ter Willerslev in einer Mitteilung. Worin dieser Vorteil bestanden haben könnte, schreiben Samira Asgari von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York und der Wissenscha­ftsjournal­ist Lionel Pousaz in einem Nature-Kommentar: „Die Autoren spekuliere­n, dass das Vorhandens­ein dieser Varianten in der Ära nach den Jägern und Sammlern von Vorteil gewesen sein könnte, als Landwirtsc­haft, Domestizie­rung von Tieren und eine höhere Bevölkerun­gsdichte die Wahrschein­lichkeit von Krankheits­erregern erhöhten.“

Anders formuliert: Diese Gene stärkten das Immunsyste­m zu einer Zeit, als die Häufigkeit von Infektions­krankheite­n zunahm – steigerten aber anderersei­ts das Risiko einer Überreakti­on der Körperabwe­hr. Dies sei eine stichhalti­ge Vermutung, so Asgari und Pousaz, auch wenn konkretere Belege erforderli­ch seien, um sie zu belegen.

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Illustrati­on: Sebastian, Adobe Stock

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