Physios wollen selbstständiger arbeiten
Die deutsche Ausbildung von Physiotherapeuten erfüllt längst nicht die europäischen Standards. Welche Probleme in der Physiotherapie Arbeitende im Landkreis darin sehen.
Überfüllte Praxen, Personalmangel bei Ärzten und Therapeuten, lange Wartezeiten für die Patienten, mühsame Wege zwischen Arzt und Therapeut, Kompetenzwirrwarr, das sind nur einige Posten auf der langen Liste dessen, was es im deutschen Gesundheitswesen zu verbessern gäbe. Die Chance, wenigstens in einem Bereich schlankere, effektivere Abläufe und Strukturen zu schaffen, sei unlängst auf dem Therapiegipfel 2023 in Berlin vertan worden, meint Florian Lahner, Physiotherapeut von der Praxis „Scharpf, Therapie und Training“in Krumbach. Bereits seit 2009 gibt es laut Lahner Modellversuche, die Ausbildung zum Physiotherapeuten zu akademisieren. Doch die Politik habe seither die Entscheidung, die Ausbildung der Physiotherapeuten aufzuwerten, immer wieder vertagt und nun endlich auf die lange Bank geschoben. Das sieht auch Nikolaus Färber von der Praxis „Physiotherapie Färber & Rausch“in Günzburg so.
Bei Gesundheitsminister Jens Spahn hatte man, so Färber, den Eindruck, der Knoten könnte platzen. Karl Lauterbach, derzeit Gesundheitsminister, rudere wieder zurück, traue sich nicht, Kompetenzen der Ärzte zu beschneiden. Das aber könnte mit die wichtigste Konsequenz sein, wenn die Ausbildung zum Physiotherapeuten eine wissenschaftliche Komponente bekäme. Angehende Physiotherapeuten würden in die Forschung eingebunden. Ihre Fähigkeiten zu erkennen und zu entscheiden, welche Maßnahmen in welchem Fall und unter welchen Bedingungen den größten Heilungserfolg versprächen, würden deutlich verbessert. Zwar sei es bereits heute üblich, dass Ärzte für Physiotherapeuten quasi Blankorezepte ausstellten und der Therapeut über Heilmittel, Strategien, Dauer und Frequenz der Behandlung
entscheiden dürfe, erklärt Florian Lahner. Doch den fälligen nächsten Schritt, dem wissenschaftlich geschulten Therapeuten noch mehr Selbstständigkeit zu geben, den wolle die Politik hierzulande nicht gehen. Das aber wäre ein Schritt zur Entbürokratisierung, ein Schritt, unnötige Zwischenstationen für die Patienten zu vermeiden.
Die Akademisierung der Physio-Ausbildung, seinerzeit in Bologna beschlossen, sei mittlerweile von allen anderen europäischen Mitgliedsstaaten umgesetzt, sagt Florian Lahner. Deutschland zahle lieber Bußgelder an Brüssel und bleibe bei seiner zögerlichen Haltung. Als klassischer Hilfsberuf sei der Physiotherapeut konzipiert worden, meint Nikolaus Färber, die Widerstände, daran etwas zu ändern, seien wohl zu groß. Dabei wäre die Aufwertung des Berufs auch eine vielversprechende Maßnahme gegen den aktuellen Fachkräftemangel.
Weil Ausbildung und berufliche Möglichkeiten des Physiotherapeuten in Deutschland nicht weiterentwickelt würden, seien freie Stellen für Fachkräfte aus dem Ausland nicht attraktiv, kritisiert Lahner. Umgekehrt würden deutsche Fachkräfte auf dem europäischen Markt nicht anerkannt. Wechselt beispielsweise ein in Deutschland ausgebildeter Physiotherapeut in die Schweiz, darf er am Patienten nur einen Teil dessen behandeln, was der Schweizer Kollege darf. Wenn Fachkräftemangel und Überalterung des Personals schon heute ein Problem sind, dann müsse die deutsche Politik alles daran setzen, den Beruf des Physiotherapeuten attraktiver zu machen, meint Lahner.
Eine Akademisierung eröffne für diesen Beruf Aufstiegsmöglichkeiten und Weiterentwicklung, das sei ein starker Anreiz, sich für diesen beruflichen Weg zu entscheiden. Was Florian Lahner und Nikolaus Färber auf keinen Fall wollen, das ist, die solide und sehr praktisch angelegte, dreijährige Ausbildung zum Physiotherapeuten, die derzeit von Fachschulen geleistet wird, infrage zu stellen oder gar zu beschneiden. Das Akademische sollte ein Zusatzangebot sein, das etwa 30 Prozent der Auszubildenden wahrnehmen sollten. In anderen Berufen wird das bereits erfolgreich praktiziert.
Im Bereich Bildung und Erziehung beispielsweise kann die an einer Fachschule abgeschlossene Ausbildung weitergeführt werden an einer Fachakademie. Für Absolventen der Fachakademie wiederum gibt es spezielle Studiengänge an den Hochschulen, um sich für herausgehobene Aufgaben oder die Leitung einer großen Einrichtung zu qualifizieren. Dem Beruf des Physiotherapeuten müsste eine ähnliche Perspektive eröffnet werden, meinen Florian Lahner und Nikolaus Färber, das wäre ein Gewinn für den Berufsstand, aber auch für leidgeplagte Patienten und überlastete Ärzte.