Technik trifft auf Demenz
Beim Krankenpflegeverein in Burgau haben Demenzpatienten viele Möglichkeiten zu verreisen. Wie Senioren auf Virtual-Reality-Brillen reagieren und welche therapeutischen Erfolge das hat.
Regentropfen laufen an den Fensterscheiben der Seniorenwohnanlage des Krankenpflegevereins Burgau hinunter, der Blick nach draußen zeigt den wolkenverhangenen Himmel. Doch die betagte Frau mit dem schütteren weißen Haar, die aus dem Fenster zu schauen scheint, sieht etwas völlig anderes. Sie ist abgetaucht in eine andere Welt. Nicht erreichbar – jedenfalls für den Moment nicht, in dem sie diese spezielle Brille trägt, die sie wie eine Taucherin aussehen lässt. Immer wieder dreht sie ihren Kopf nach links und rechts, als ob sie sich neugierig umschauen würde. Sie sieht den Strand in der Karibik, die Palmen und hört das Rauschen des Meeres, beobachtet die Fische, die im Wasser auf- und abtanzen. „Das ist schön“, sagt sie über die virtuelle Realität, die ihr eine VR-Brille projiziert.
Virtuelle Realitätserlebnisse ermöglichten es vor allem dementen, aber auch nicht dementen alten Menschen, in eine Welt einzutauchen, die speziell darauf ausgerichtet ist, ihre emotionalen und kognitiven Fähigkeiten zu stimulieren, sagt Nicole Keil, Pflegedienstleiterin des Krankenpflegevereins Burgau. Seit etwa drei Monaten kommen dort VR-Brillen zum Einsatz und bieten den Bewohnerinnen und Bewohnern eine Welt, in der man sich mittels Kopfbewegungen in 360 Grad umsehen kann. So gewinnt man den Eindruck, sich in dieser Welt zu befinden. Bei den Brillen handelt es sich um Spezialbrillen mit sogenannten binauralen Beats. Das seien Sinustöne für das linke und das rechte Ohr, die sich leicht in ihrer Frequenz unterscheiden, erklärt Keil. Dieser Unterschied erzeugt im menschlichen Gehirn die entsprechenden Schwebungen, die das Gehirn stimulieren und so positive Effekte hervorrufen.
Die Brillen sorgen somit nicht nur für unterhaltsame Ablenkung oder die Möglichkeit, außerhalb der eingeschränkten Bewegungszone endlich wieder mehr sehen und erleben zu können. Die Pflegekräfte berichteten von erstaunlichen Ergebnissen, sagt Keil. Man habe gerade im Umgang mit Demenzerkrankten einen therapeutischen Nutzen. „Wir können damit herausforderndes Verhalten unserer Gäste, also Unruhe oder den Drang, die Umgebung wechseln zu wollen, mit einer 15-minütigen Fantasiereise eindämmen und schaffen es, die Person aus der akuten Situation herauszuholen.“Der Tag-Nacht-Rhythmus habe sich zudem bei einigen zum Positiven verändert und für ein entspannteres und besseres Schlafverhalten geführt. Bei einem Patienten, der körperlich sehr eingeschränkt ist, habe man beobachten können, wie er mit seinen Händen wieder vermehrt begonnen habe, nach Dingen zu greifen.
Ein weiterer Aspekt sei, so die Pflegedienstleiterin, dass der Einsatz der VR-Brillen die Kommunikation anrege. Erinnerungen werden bei den Senioren hervorgerufen. Keil erzählt von einer an Demenz erkrankten Bewohnerin, die über die VR-Brille in ein Bergpanorama eintauchte. Nach der Anwendung erzählte sie, dass ihr Mann früher ein leidenschaftlicher Bergsteiger gewesen sei und jeden Berg erklommen habe, der ihm unterkam. So erfahre man Details zur Biografie der Menschen, die noch gar nicht bekannt waren. Das wiederum ermögliche neue therapeutische Ansätze.
Doch Keil erwähnt auch, dass man vor einer Anwendung der VRBrillen genau prüfen müsse, ob dies für den jeweiligen Menschen auch ein geeignetes Mittel sei. Man müsse die Biografie der Menschen gut kennen und wissen, was sie bewegt und wovor sie Ängste haben. „Wer Angst vor dem Wasser hat, den darf man nicht mit einem Tauchgang im Ozean triggern“, erklärt Keil. Im Vorfeld werde immer eine Befragung mit den Bewohnern, aber auch mit ihren Angehörigen durchgeführt. So könne die virtuelle Reise bestmöglich vorbereitet und begleitet werden, erklärt Josef Knöpfle, geschäftsführender Vorstand des Krankenpflegevereins Burgau. In der Nachbereitung werden zudem Dokumentationen zur Durchführung erstellt, so lassen sich auch Fortschritte und positive Veränderungen von Wesensmerkmalen festhalten.
Bevor die Brillen zum Einsatz kamen, habe jeder Mitarbeiter die Brillen einige Tage selbst getestet, um zu schauen, wie man auch selbst darauf reagiere. Das Empfinden kognitiv eingeschränkter
Menschen sei natürlich anders, „aber ein Gespür dafür hat man“, betont Keil. Anfangs sei sie eher skeptisch gewesen. „Weil einfach Technik auf sensible Menschen trifft“, sagt sie. Mittlerweile habe sich ihr Zweifel gelegt. „Das Schöne daran ist zu sehen, wie die Anwendung der VR-Brillen den Senioren guttut.“Die Brillen werden im Rahmen von Gruppenstunden zweimal in der Woche eingesetzt. Danach entstehe sogar ein Austausch darüber, was man gesehen und sich dabei gedacht habe. „Wir haben auch Gäste, die an Depressionen als Begleiterkrankung leiden. Mit den Brillen schaffen wir es, sie aus einer Verstimmung herausholen“, sagt Keil.
„Der Krankenpflegeverein versteht sich als innovativ, und daher wollen wir auch neue Wege gehen und ausprobieren“, merkt Knöpfle an. Mit Unterstützung der Lotterie Glücksspirale war es überhaupt erst möglich geworden, in die Brillen zu investieren. Erst kürzlich besuchte ein Fernsehteam der die Einrichtung zum Dreh für einen Fernsehspot, der am 10. März kurz vor der „Tagesschau“ausgestrahlt wird.