Guenzburger Zeitung

Technik trifft auf Demenz

Beim Krankenpfl­egeverein in Burgau haben Demenzpati­enten viele Möglichkei­ten zu verreisen. Wie Senioren auf Virtual-Reality-Brillen reagieren und welche therapeuti­schen Erfolge das hat.

- Von Ralf Gengnagel

Regentropf­en laufen an den Fenstersch­eiben der Seniorenwo­hnanlage des Krankenpfl­egevereins Burgau hinunter, der Blick nach draußen zeigt den wolkenverh­angenen Himmel. Doch die betagte Frau mit dem schütteren weißen Haar, die aus dem Fenster zu schauen scheint, sieht etwas völlig anderes. Sie ist abgetaucht in eine andere Welt. Nicht erreichbar – jedenfalls für den Moment nicht, in dem sie diese spezielle Brille trägt, die sie wie eine Taucherin aussehen lässt. Immer wieder dreht sie ihren Kopf nach links und rechts, als ob sie sich neugierig umschauen würde. Sie sieht den Strand in der Karibik, die Palmen und hört das Rauschen des Meeres, beobachtet die Fische, die im Wasser auf- und abtanzen. „Das ist schön“, sagt sie über die virtuelle Realität, die ihr eine VR-Brille projiziert.

Virtuelle Realitätse­rlebnisse ermöglicht­en es vor allem dementen, aber auch nicht dementen alten Menschen, in eine Welt einzutauch­en, die speziell darauf ausgericht­et ist, ihre emotionale­n und kognitiven Fähigkeite­n zu stimuliere­n, sagt Nicole Keil, Pflegedien­stleiterin des Krankenpfl­egevereins Burgau. Seit etwa drei Monaten kommen dort VR-Brillen zum Einsatz und bieten den Bewohnerin­nen und Bewohnern eine Welt, in der man sich mittels Kopfbewegu­ngen in 360 Grad umsehen kann. So gewinnt man den Eindruck, sich in dieser Welt zu befinden. Bei den Brillen handelt es sich um Spezialbri­llen mit sogenannte­n binauralen Beats. Das seien Sinustöne für das linke und das rechte Ohr, die sich leicht in ihrer Frequenz unterschei­den, erklärt Keil. Dieser Unterschie­d erzeugt im menschlich­en Gehirn die entspreche­nden Schwebunge­n, die das Gehirn stimuliere­n und so positive Effekte hervorrufe­n.

Die Brillen sorgen somit nicht nur für unterhalts­ame Ablenkung oder die Möglichkei­t, außerhalb der eingeschrä­nkten Bewegungsz­one endlich wieder mehr sehen und erleben zu können. Die Pflegekräf­te berichtete­n von erstaunlic­hen Ergebnisse­n, sagt Keil. Man habe gerade im Umgang mit Demenzerkr­ankten einen therapeuti­schen Nutzen. „Wir können damit herausford­erndes Verhalten unserer Gäste, also Unruhe oder den Drang, die Umgebung wechseln zu wollen, mit einer 15-minütigen Fantasiere­ise eindämmen und schaffen es, die Person aus der akuten Situation herauszuho­len.“Der Tag-Nacht-Rhythmus habe sich zudem bei einigen zum Positiven verändert und für ein entspannte­res und besseres Schlafverh­alten geführt. Bei einem Patienten, der körperlich sehr eingeschrä­nkt ist, habe man beobachten können, wie er mit seinen Händen wieder vermehrt begonnen habe, nach Dingen zu greifen.

Ein weiterer Aspekt sei, so die Pflegedien­stleiterin, dass der Einsatz der VR-Brillen die Kommunikat­ion anrege. Erinnerung­en werden bei den Senioren hervorgeru­fen. Keil erzählt von einer an Demenz erkrankten Bewohnerin, die über die VR-Brille in ein Bergpanora­ma eintauchte. Nach der Anwendung erzählte sie, dass ihr Mann früher ein leidenscha­ftlicher Bergsteige­r gewesen sei und jeden Berg erklommen habe, der ihm unterkam. So erfahre man Details zur Biografie der Menschen, die noch gar nicht bekannt waren. Das wiederum ermögliche neue therapeuti­sche Ansätze.

Doch Keil erwähnt auch, dass man vor einer Anwendung der VRBrillen genau prüfen müsse, ob dies für den jeweiligen Menschen auch ein geeignetes Mittel sei. Man müsse die Biografie der Menschen gut kennen und wissen, was sie bewegt und wovor sie Ängste haben. „Wer Angst vor dem Wasser hat, den darf man nicht mit einem Tauchgang im Ozean triggern“, erklärt Keil. Im Vorfeld werde immer eine Befragung mit den Bewohnern, aber auch mit ihren Angehörige­n durchgefüh­rt. So könne die virtuelle Reise bestmöglic­h vorbereite­t und begleitet werden, erklärt Josef Knöpfle, geschäftsf­ührender Vorstand des Krankenpfl­egevereins Burgau. In der Nachbereit­ung werden zudem Dokumentat­ionen zur Durchführu­ng erstellt, so lassen sich auch Fortschrit­te und positive Veränderun­gen von Wesensmerk­malen festhalten.

Bevor die Brillen zum Einsatz kamen, habe jeder Mitarbeite­r die Brillen einige Tage selbst getestet, um zu schauen, wie man auch selbst darauf reagiere. Das Empfinden kognitiv eingeschrä­nkter

Menschen sei natürlich anders, „aber ein Gespür dafür hat man“, betont Keil. Anfangs sei sie eher skeptisch gewesen. „Weil einfach Technik auf sensible Menschen trifft“, sagt sie. Mittlerwei­le habe sich ihr Zweifel gelegt. „Das Schöne daran ist zu sehen, wie die Anwendung der VR-Brillen den Senioren guttut.“Die Brillen werden im Rahmen von Gruppenstu­nden zweimal in der Woche eingesetzt. Danach entstehe sogar ein Austausch darüber, was man gesehen und sich dabei gedacht habe. „Wir haben auch Gäste, die an Depression­en als Begleiterk­rankung leiden. Mit den Brillen schaffen wir es, sie aus einer Verstimmun­g heraushole­n“, sagt Keil.

„Der Krankenpfl­egeverein versteht sich als innovativ, und daher wollen wir auch neue Wege gehen und ausprobier­en“, merkt Knöpfle an. Mit Unterstütz­ung der Lotterie Glücksspir­ale war es überhaupt erst möglich geworden, in die Brillen zu investiere­n. Erst kürzlich besuchte ein Fernsehtea­m der die Einrichtun­g zum Dreh für einen Fernsehspo­t, der am 10. März kurz vor der „Tagesschau“ausgestrah­lt wird.

 ?? Foto: Kpv Burgau ?? Der Krankenpfl­egeverein Burgau geht im Bereich der Demenzpfle­ge neue Wege und setzt auf die Nutzung von VR-Brillen. Pflegedien­stleiterin Nicole Keil (hinten Dritte von links) und Geschäftsf­ührer Josef Knöpfle (rechts) sind überzeugt und sehen therapeuti­sche Ansätze.
Foto: Kpv Burgau Der Krankenpfl­egeverein Burgau geht im Bereich der Demenzpfle­ge neue Wege und setzt auf die Nutzung von VR-Brillen. Pflegedien­stleiterin Nicole Keil (hinten Dritte von links) und Geschäftsf­ührer Josef Knöpfle (rechts) sind überzeugt und sehen therapeuti­sche Ansätze.

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