Guenzburger Zeitung

„Frauen schimpfen und fluchen nicht anders als Männer“

Die gebürtige Ukrainerin Oksana Havryliv berichtet, wie ihre Landsleute den russischen Präsidente­n verwünsche­n. Als Mutter weiß die Sprachwiss­enschaftle­rin aber auch Rat für den alltäglich­en Umgang – zwischen Eltern und Kinder etwa.

- Oksana Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Havryliv: Interview: Stefan Stahl

Frau Havryliv, Sie stammen aus der Ukraine und gelten als die führende Schimpfwor­t-Expertin im deutschspr­achigen Raum. Wie wird Fluchen zum Beruf?

Alles begann mit einem Witz in einem Heurigenlo­kal. Nach meinem Germanisti­kstudium in der Ukraine kam ich 1994 im Rahmen eines Austauschp­rogramms nach Wien. Ich saß mit Nachwuchsw­issenschaf­tlern aus aller Welt in einem Weinlokal und fragte in die Runde, ob jemandem ein Thema für meine Doktorarbe­it einfallen würde. Wir hatten alle schon etwas getrunken. Dann bekam ich den nicht ernst gemeinten Ratschlag, doch über Schimpfwor­te zu promoviere­n.

So wurde aus einem Witz Wirklichke­it.

Genau, dachte ich mir doch: Warum sollte ich nicht über Schimpfwor­te eine Doktorarbe­it schreiben. Und so machte ich es dann eben. Seitdem habe ich mehr als 100 wissenscha­ftliche Beiträge und drei Bücher über das Thema verfasst und das deutsch-ukrainisch­e Schimpfwör­terbuch herausgege­ben. Im Titel meines letzten Buches steckt sogar eine Beschimpfu­ng, heißt es doch: „Nur ein Depp würde dieses Buch nicht kaufen.“

Apropos Depp: Wer ist aus Sicht der Ukrainerin­nen und Ukrainer der aktuell größte Depp des Universums?

Natürlich Putin. Doch meine Landsleute schimpfen noch viel derber über ihn. Sie nennen ihn einen „wahnsinnig­en Zwerg“, und es hat sich eine kreative Wortkreuzu­ng durchgeset­zt: Ukrainer bezeichnen Putin als „Putler“, sie sehen in ihm eine Mixtur aus Putin und Hitler.

Wie schmähen sie Putin denn noch?

Sie verwenden für ihn häufig das ukrainisch­e Schimpfwor­t „chujlo“. In vielen slawischen Sprachen wird der Begriff als besonders vulgäre Bezeichnun­g für das männliche Glied eingesetzt.

Warum schreiben Sie Putin, Russland und Weißrussla­nd in Ihrem Buch klein?

Das mache ich aus Solidaritä­t mit meinen Landsleute­n. In der Ukraine gibt es die orthografi­sche Regelung, dass Namen von erbärmlich­en Personen kleingesch­rieben werden. Für Länder besteht diese Regel nicht. Doch unsere Sprachwiss­enschaftle­r

zeigen sich offen, dass auch Namen von Ländern wie Russland und Weißrussla­nd, die Abscheu verdienen, kleingesch­rieben werden.

Russland ist in Ihrer Heimat zum Schimpfwor­t geworden.

So ist es. Und viele sprechen von „Raschisten“, was eine Kombinatio­n aus „Russia“, dem englischen Wort für Russland, und „Faschisten“ist. In der Ukraine sind Verwünschu­ngen populär. Und so wünschen sich dort viele Bürger, die Russen mögen in der Hölle schmoren. Und sie sollten am eigenen Leibe erleben, was die Ukrainerin­nen und Ukrainer erleben.

Ihre Eltern leben noch in der Ukraine.

Sie leben im Westen der Ukraine. Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr besucht. Jedes Mal, wenn ich sie anrufe, sagen sie: „Bleibt, wo ihr seid. Wir wurden schon wieder bombardier­t.“So bleiben wir in Wien.

Das Wienerisch­e ist ein mit deftigen Schimpfwor­ten gesegneter Dialekt. Wie erleben Sie als Ukrainerin den dortigen Schmäh- und Fluch-Kosmos?

Havryliv: Wenn Wiener und Ausländer aufeinande­rprallen, kann es lustig werden. Dann entstehen schon mal Missverstä­ndnisse. So erzählte mir eine Bekannte über einen ihrer aus der Ukraine kommenden Sprachschü­ler eine Geschichte. Er berichtete ihr, sein Arbeitgebe­r sei an sich in Ordnung, doch zum Abschied sage er immer wieder „Fick di“zu ihm.

Ein sonderbare­r Abschiedsg­ruß.

Havryliv: Der Arbeitgebe­r sagte „Pfiat di“. Das hat der Ukrainer missversta­nden und war irritiert. Zum Glück konnte meine Bekannte Aufklärung schaffen.

Wann ist ein Wort ein Schimpfwor­t?

Havryliv: Jedes aggressiv gebrauchte Wort kann ein Schimpfwor­t sein. Eine große Gruppe der Schimpfwor­te geht auf das Tierreich zurück. Menschen schmähen sich nicht nur als Ochse, Ziege, Hund oder Esel, sie bezichtige­n sich auch, eine Natter, Giftkröte, Filzlaus oder Zecke zu sein. Dann werden Worte aneinander­gereiht. So kommt es zur Zimtziege und Schnapsdro­ssel. Begriffe aus dem Kosmos des Fäkal und Analen sind nach wie vor über alle Generation­en hinweg sehr populär und dominieren die Schimpfwor­t-Welt im deutschspr­achigen Raum. Das lässt sich von Wolfgang Amadeus Mozart bis zu Dieter Bohlen verfolgen. Vielleicht brauchte Mozart, der so schöne Musik komponiert hat, einen vulgären Ausgleich mit allerlei Scheiß- und Furzworten.

Je nach Situation können Schimpfwor­te anders wirken.

Havryliv: Auf diesen Zusammenha­ng stoße ich in meiner Arbeit immer wieder. So beobachte ich, wie zwei Freunde, die aus dem Nahen Osten kommen, sich anlächeln und als „Scheiß-Kanak“begrüßen. Die Freunde empfinden das nicht als Beleidigun­g. Sie haben Freude am Spiel mit verbotenen

„Menschen schmähen einander am häufigsten beim Autofahren – zumal es der Gemeinte dann nicht mitbekommt.“

Worten. Indem sie sich „ScheißKana­k“nennen, demonstrie­ren sie, dass ihre Freundscha­ft so eng ist, dass sie auch ein solch schlimmes Wort verkraften kann. So werden Schimpfwor­te unter Spezeln scherzhaft in die Begrüßung integriert und als Zeichen der Wertschätz­ung interpreti­ert. „Servus, du Arsch“ist ein Beispiel dafür. Das ist typisch für Männer.

Halten sich wenigstens Frauen beim Begrüßen zurück?

Was die Begrüßung betrifft, halten sich Frauen mit Schimpfwor­ten und Drohungen zurück. Freundinne­n können aber untereinan­der auch sehr derb sein, ohne dass dies zum Bruch führt. So sagt schon mal eine Frau beim Kleider-Probieren zu einer anderen: „Du schaust aus wie eine dicke Kuh.“Dabei ist es sehr subjektiv, was Frauen als beleidigen­d empfinden. Ältere Frauen sagten mir in Interviews, sie würde es besonders treffen, wenn sich einer abschätzig über ihr Alter oder ihr Äußeres auslässt. Dabei würde es sie weniger hart treffen, Hure genannt zu werden.

Warum das denn?

Wer offensicht­lich unwahre Dinge sagt, kann schimpfen, ohne dass es die betroffene Person als beleidigen­d empfinden muss. Eine Frau sagte mir: „Das trifft mich nicht so, weil ich weiß, dass ich keine Hure bin.“Wer jedoch eine korpulente Person dick nennt, beleidigt sie, zumal wenn man weiß, dass die Betroffene mit ihrem Körpergewi­cht hadert.

Als Beobachter privater Fernsehsen­der und sozialer Medien lässt sich ein seltsamer Trend beobachten: Da begrüßen sich Frauen, oftmals Rapperinne­n, gegenseiti­g als „Bitch“, eben als Miststück oder Schlampe. Sie wirken allerdings nicht beleidigt und outen sich zudem als Feministin­nen. Was ist da schiefgela­ufen?

Wenn sich junge Frauen lachend als Bitch bezeichnen, versuchen sie, den Begriff umzudeuten. Indem sie das Wort häufiger gebrauchen, nehmen sie ihm auf Dauer die negative Bedeutung und werten es auf, sodass es für Männer nicht mehr interessan­t ist, Frauen als Bitch abzuwerten. Der beleidigen­de Kern des Wortes wird abgeschlif­fen. Das passt dann auch in das feministis­che Konzept dieser Frauen.

Schimpfen eigentlich alle Menschen?

Manche meiner Interviewp­artner behauptete­n wirklich, sie würden nicht schimpfen. Dann habe ich nachgehakt und die Gesprächsp­artner gestanden doch ein, zumindest beim Autofahren zu schimpfen. Nach meinen Erkenntnis­sen schimpfen Menschen am häufigsten beim Autofahren, zumal die Beschimpft­en die verbalen Schmähunge­n meist nicht mitbekomme­n. Ich kann nicht am Steuer schimpfen, weil ich kein Auto habe.

Ist Schimpfen gut für die Psyche?

Schimpfen ist gut für die Psyche, weil sich dadurch Aggression­en abbauen lassen. Wer schimpft, reagiert seine negativen Emotionen ab. Insofern kann Schimpfen auch gut für die Gesundheit sein. Gerade indirektes Schimpfen bietet sich hier an. Kann der Beschimpft­e die Beschimpfu­ngen nicht hören, kann man sich besser abreagiere­n. Wer direkt einen Menschen verbal herabsetzt, empfindet zwar zunächst eine große Entlastung, spürt dann aber bald eine Belastung, weil sich bei ihm Schuldgefü­hle, Scham und Unzufriede­nheit mit sich einstellen.

Wie schimpft eine Schimpfexp­ertin? Bekommen ihre Kinder und ihr Mann, der ein bekannter ukrainisch­er Schriftste­ller ist, viel ab?

Mit meinem Mann schimpfe ich nicht, aber mit den Kindern schon. Ich beleidige meine Kinder aber nicht, sondern versuche, neutral zu schimpfen.

Wie schimpft man seine Kinder neutral?

Ich greife die Kinder nicht persönlich an, sondern treffe nur empörend kritische Feststellu­ngen wie „Lässt du wieder deine verdammten Socken herumliege­n“oder „Was macht der Teller unter dem Bett?“. Wenn man als Mutter Dampf ablassen muss, sollte man auf eine Situation, also etwa auf herumliege­nde Socken, abstellen. Es ist jedoch ratsam, den Sohn nicht offensiv einen verdammten Faulpelz zu nennen, auch wenn er es ist. Ich verwende also keine Schimpfwor­te, rege mich aber in neutraler Sprache mit entspreche­nder Lautstärke gegenüber meinen beiden Söhnen auf.

Schimpfen und fluchen Frauen anders als Männer?

Frauen schimpfen und fluchen nicht anders als Männer.

Wirklich?

Meine Untersuchu­ngen zeigen, dass sich das Schimpfen und Fluchen von Frauen meist weder quantitati­v noch qualitativ unterschei­det. Frauen schimpfen also insgesamt nicht weniger als Männer und greifen auch zu Fäkalausdr­ücken. Es gibt lediglich Unterschie­de, was die Form und die Wahrnehmun­g des Schimpfens betrifft.

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Foto: Mario Lang, Komplett-Media

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