Guenzburger Zeitung

„Direktes Ansprechen ist das Allerbeste“

Wenn Menschen suizidgefä­hrdet sind, senden sie häufig Signale aus. Eine Expertin rät, solche Äußerungen sehr ernst zu nehmen.

- Hannah Müller-Pein: Müller-Pein: Müller-Pein: Müller-Pein: Müller-Pein: Müller-Pein: Müller-Pein: Müller-Pein: Interview: Angela Stoll

Landläufig heißt es: Wer davon spricht, sich umzubringe­n, tut es am Ende nicht. Stimmt das? Was sagen Sie als Suizidfors­cherin dazu?

Da ist tatsächlic­h gar nichts dran, oder sehr wenig. Leider ist das einer der hartnäckig­sten Mythen, die sich um Suizid ranken. Acht von zehn Menschen, die sich suizidiere­n, machen vorher auf sich aufmerksam. Entweder sprechen sie darüber oder zeigen durch andere Signale, dass es ihnen sehr schlecht geht und dass sie mit dem Gedanken spielen, sich das Leben zu nehmen.

Welche Signale deuten darauf hin, dass jemand suizidgefä­hrdet ist?

Meistens sind das verbale Äußerungen. Daher muss man sehr wachsam werden, wenn jemand Sätze sagt wie: „Ich mag nicht mehr“oder „Am liebsten würde ich gar nicht mehr aufwachen“. So etwas sollte man ernst nehmen und nachfragen: „Was meinst du damit?“Es gibt aber auch Verhaltens­änderungen, die auf eine Suizidgefä­hrdung hindeuten, etwa, dass Menschen Interessen verlieren, dass sie sich zurückzieh­en oder persönlich­e Gegenständ­e verschenke­n.

Fast jeder sagt mal etwas wie „Da könnte ich mir glatt die Kugel geben“– normalerwe­ise ist aber nichts dahinter. Woher weiß man, dass es jemand ernst meint?

Das direkte Ansprechen ist das Allerbeste. Viele Menschen scheuen sich aber davor, weil sie denken: Könnte ich vielleicht jemanden auf die Idee bringen, sich zu suizidiere­n? Das ist eine absolut falsche Sorge. Wenn man merkt, dass jemand sehr stark belastet ist, ist es wichtig, ins Gespräch zu kommen. Viele Menschen mit Suizidabsi­chten machen die Erfahrung, dass sie eben nicht ernst genommen werden. Oder dass sie mit niemandem über ihre Gedanken reden können, weil es so ein Tabuthema ist. Die meisten Menschen in Krisensitu­ationen nehmen es als sehr entlastend wahr, wenn jemand ein offenes Ohr hat und nachfragt.

Wie geht man vor, wenn jemand „zu macht“, also gar nicht mit sich reden lässt?

Auch dann würde ich empfehlen, hartnäckig zu bleiben, ohne der Person zu sehr auf die Pelle zu rücken. Man kann etwas in der Art sagen: „Ich merke, es geht dir schlecht. Ich merke aber auch, dass du gerade nicht mit mir darüber reden möchtest. Ich nehme das ernst und werde dran bleiben. Vielleicht werde ich mir selber Beratung suchen.“Wenn man sich um nahe Angehörige Sorgen macht, sollte man sich Unterstütz­ung holen. Es ist sinnvoll, Profis den Fall zu schildern und sich Tipps geben zu lassen. Dadurch nimmt man zusätzlich eine positive Vorbildfun­ktion ein und zeigt: Es ist okay, sich Hilfe zu holen.

Wie erkennt man akute Gefahr? Wann muss man den Notruf wählen?

Müller-Pein: Das sollte man tun, wenn sich jemand gar nicht mehr von seinen Suizidedan­ken abbringen lässt. Also wenn jemand zum Beispiel sagt: „Ich habe das so entschiede­n!“Natürlich muss man auch den Notruf wählen, wenn ein Suizidvers­uch schon begonnen hat. Generell sagen wir: Lieber einmal zu viel anrufen als zu wenig.

Männer begehen häufiger Suizid als Frauen …

Müller-Pein: Ja, mehr als 75 Prozent der vollendete­n Suizide entfallen auf Männer. Immer noch sind Frauen eher bereit als Männer, über ihre Probleme zu reden. Dieser Faktor hat auch Bedeutung für die Prävention. Man muss kreative Maßnahmen finden, um Zugang zu Männern zu finden. Vielleicht sollte ich meine Flyer nicht im Supermarkt

verteilen, sondern im Baumarkt – um bei den alten Rollenbild­ern zu bleiben. Vielleicht braucht es auch mehr Männer im Hilfesyste­m, weil Männer manchmal leichter mit Männern reden können.

Welche Faktoren erhöhen das Suizidrisi­ko wesentlich?

Dazu gehören psychische Erkrankung­en, Suizidvers­uche in der Vergangenh­eit und Verlusterf­ahrungen aller Art. Dem stehen Schutzfakt­oren gegenüber, etwa dass man einen Platz in der

Gesellscha­ft und eine wertschöpf­ende Arbeit hat. Für manche kann auch Glaube und Religiosit­ät ein Schutzfakt­or sein. Außerdem spielen Selbstbewu­sstsein, ein gesundes Aufwachsen, auch ein gesundes Verhalten – etwa genügend Schlaf – eine Rolle. Nicht zu vergessen der Optimismus.

Stimmt es, dass es ein Risikofakt­or ist, wenn es in der Familie bereits Selbsttötu­ngen gegeben hat?

In manchen Familien lässt sich eine Häufung von Suiziden feststelle­n. Dabei handelt es sich eher um die Weitergabe von suizidalen Verhaltens­weisen. Suizidalit­ät wird nicht genetisch weitergege­ben. Überhaupt gibt es nicht den einen Grund für Suizidalit­ät. Vielmehr handelt sich um ein sehr komplexes Geschehen, mit dem man sich auseinande­rsetzen muss. Das fällt vielen Menschen schwer.

Zu welcher Jahreszeit steigt das Suizidrisi­ko?

Die meisten Suizide finden im Mai, also im Frühjahr statt. Das überrascht die meisten Menschen, weil sie meinen, die Gefahr sei in den dunklen Monaten oder auch um Weihnachte­n herum größer. Ein Erklärungs­ansatz: Im November und Dezember rutschen viele Menschen in einen Herbstblue­s. Dadurch entsteht eine kollektive Niedergesc­hlagenheit, in der sich Menschen, die zu Suizidgeda­nken neigen, wohlfühlen. Das ändert sich im Frühling, wenn die meisten Leute wieder aufblühen und das Leben genießen. Dann sehen suizidgefä­hrdeten Menschen eine Diskrepanz zu ihrem eigenen Empfinden. Sie haben verstärkt das Gefühl, abgehängt zu werden. Aber auch dieser Ansatz kann das Phänomen nicht komplett erklären.

Über Suizide soll in den Medien möglichst wenig berichtet werden. Kann es dadurch nicht auch zu einer Tabuisieru­ng des Themas kommen?

Es geht nicht darum, nicht zu berichten. Studien haben gezeigt, dass es sehr auf die Art der Berichters­tattung ankommt. Suizidpräv­entiv wirkt zum Beispiel, Menschen zu porträtier­en, die eine suizidale Krise überwunden haben. Dagegen kann die reißerisch­e oder romantisie­rende Darstellun­g von Suiziden und Suizidmeth­oden dazu führen, das sich mehr Menschen das Leben nehmen. Das ist der sogenannte Werther-Effekt. Dabei ist es ja nicht so, dass die Menschen unbedingt sterben wollen, sondern dass sie so nicht weiterlebe­n wollen. In dieser Situation sind sie empfänglic­her für Dinge, die von außen auf sie einströmen.

Obwohl es im letzten Jahr einen Anstieg gegeben hat, sind die Suizidrate­n in Deutschlan­d langfristi­g betrachtet gesunken. Woran liegt das?

Müller-Pein: In der Tat hatten wir 1980 doppelt so viele Suizide wie jetzt, nämlich um die 20.000 pro Jahr. Inzwischen hat sich das Gesundheit­ssystem verbessert, aber auch der Zugang zu Suizidmitt­eln wurde beschränkt. Zum Beispiel sind hochgiftig­e Düngemitte­l nicht mehr zugänglich. Dennoch sehen wir großen Handlungsb­edarf. 9000 bis 10.000 Suizidopfe­r pro Jahr können wir nicht hinnehmen. Das Warten auf einen Fachärztin­nen-Termin in der Psychiatri­e ist immer noch sehr lang, ebenso das Warten auf einen Psychother­apie-Platz. Es kann nicht sein, dass der Zugang zum assistiert­en Suizid, wo es noch eine gesetzlich­e Regelung braucht, leichter ist als der zu einem Therapiepl­atz. Wir würden uns auch wünschen, dass es eine zentrale Informatio­nsund Beratungss­telle mit einer bundesweit einheitlic­hen Telefonnum­mer gibt. Ansonsten gibt es viele Ansatzpunk­te. Kinder und Jugendlich­e sollten lernen, Zugang zu ihren Gefühlen zu haben und darüber zu sprechen. Eigentlich braucht es dafür unbedingt ein Schulfach.

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