Sie lernt Sprachen, doch kann nicht sprechen
Annerose Augustin, 28, aus Unterbernbach hat einen seltenen Gendefekt und ist Autistin. Trotzdem kann sie weit mehr, als man ihr zutraut. Eine ungewöhnliche Geschichte.
Annerose Augustin ist besonders – auf vielfältige Weise. Die Tochter von Willi, 60, und Christine, 55, Augustin aus Unterbernbach (Kühbach) ist willensstark, ein wenig heikel, manchmal etwas stur, sie liebt Weihnachtsbeleuchtung, Spielzeugläden, Mario Kart und Fahrradausflüge in den Biergarten. Annerose Augustin ist 28 Jahre alt und jeden Tag auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen.
Die junge Frau ist ein abenteuerlustiger Mensch. Sie wird von ihren Eltern liebevoll Rosi genannt, kann Klavier spielen und ging, als sie Jugendliche war, stundenweise aufs Gymnasium. Gelegentlich trinkt sie gerne einen kleinen Schluck Bier oder Radler. Klingt alles ganz gewöhnlich. Doch die Geschichte der jungen Frau ist ungewöhnlich und beginnt – offensichtlich – mit ihrer Geburt. Das Baby wog nur 1500 Gramm, obwohl es nicht zu früh zur Welt gekommen war. Die Ärzte stellten bei dem Säugling ein Loch im Herzen fest: Grund für das geringe Gewicht.
Nach und nach fiel den Eltern auf, dass ihre Tochter die üblichen Entwicklungsschritte wie Drehen, Krabbeln oder Greifen deutlich langsamer oder gar nicht absolvierte. Annerose Augustin spricht bis heute kein Wort. Ihren ersten Schritt machte sie mit sechs Jahren. Feste Nahrung
kann sie praktisch nicht zu sich nehmen. Sie trinkt Babyflaschen mit hochkalorischer Flüssignahrung. Als das Loch im Herzen operativ geschlossen wurde, war Annerose neun Jahre alt. Fast augenblicklich fing das bis dahin stets schmächtige Mädchen an zuzunehmen und zu wachsen. Tatsächlich so rasant, dass die kindliche Muskulatur keine Zeit hatte mitzuwachsen.
Die Wirbelsäule, durch eine Skoliose bereits s-förmig verformt, musste deshalb versteift werden. Sonst hätte ein Kollaps der Lunge gedroht. Dennoch läuft die junge Frau zu Hause selbstständig. Sogar Treppen. Annerose ist das
dritte Kind der Augustins. Seit der Geburt des ersten Kindes war Christine Augustin zu Hause. Vor neun Jahren dann übernahm die Ehefrau das Haarentfernungsgeschäft der Familie in Aichach und Vater Willi die Betreuung zu Hause.
Bei einer Genanalyse kam ein Defekt im Erbgut von Annerose Augustin ans Licht – er ist so selten, dass es keinen Namen dafür gibt. Zum Zeitpunkt der Diagnose waren weltweit lediglich zwei weitere Personen mit dem gleichen Defekt bekannt. Als Annerose 17 Jahre alt war, wurde bei ihr Autismus diagnostiziert. Für die damals behandelnden Ärzte war das offensichtlich, berichtet Willi Augustin. Seine Tochter tut sich schwer mit Berührungen, meidet Augenkontakt, braucht feste Strukturen und immer gleiche Abläufe. Beispielsweise liegt auf der Treppe des Hauses verschiedenes Spielzeug am Rand auf den Stufen. Es ist keineswegs wahllos abgelegt. Laut ihren Eltern ist es für die 28-Jährige wichtig, dass bestimmte Gegenstände an festgelegten Plätzen im Haus, oft auf dem Boden, liegen.
Obwohl die junge Frau nicht spricht, ist sie keineswegs stumm. Sie lautiert, gibt also Töne und Geräusche von sich, um Unmut auszudrücken oder Freude. Auf diese Weise „singt“sie auch. Urlaub ist für die Familie in den letzten 28 Jahren undenkbar gewesen. Schon allein deshalb, weil Annerose ausschließlich in ihrem eigenen Bett schlafen möchte. Als die Großeltern noch aushelfen konnten, gab es vereinzelt kurze Auszeiten für die Eltern.
Dafür unternimmt die Familie regelmäßig Tagesausflüge, die sogar nach London führen, um die Weihnachtsbeleuchtung dort zu bewundern. Mit dem Flugzeug hin und zurück an einem Tag; an Bord: Rollstuhl, Flüssignahrung, Windeln und eine strahlende Annerose.
Tagsüber besucht Annerose Augustin eine Einrichtung der Lebenshilfe, die Tagesstruktur für Menschen aus dem Autismusspektrum (TASS). Hier werden ihr Strukturen im Alltag aufgezeigt und ihre Selbstständigkeit gefördert. Die 28-Jährige kommuniziert durch Gesten, aber
auch mittels eines Schreibbrettes, das einer aufgestellten Tastatur ähnelt. Hier deutet sie mit ihrer Hand einzelne Buchstaben und bildet Wörter. In der TASS „schreibt“sie auf diese Weise sehr viel. Diese Form der Kommunikation ist oft mühsam, da immer eine Person Anneroses Zeigehand stützen muss, damit es funktioniert.
Hier könne ein moderner Sprachausgabecomputer eine Erleichterung bringen. Über solche Geräte will sich die Familie nun informieren. Von den Stockschützen Unterbernbach bekamen die Augustins dank einer Spendensammlung im Rahmen eines Glühweintreffens Ende vergangenen Jahres 1800 Euro, die sie bei dieser kostspieligen Anschaffung unterstützen soll. Solche Computer können bis zu mehreren Tausend Euro kosten. Geld, das die Krankenkasse nicht zahlt.
Die Familie musste ohnehin in den vergangenen 28 Jahren viel Geld in Hilfsmittel investieren, die eine Kasse nicht finanziert. Beim aktuellen Rollstuhl entschied nach einem Jahr Kampf das Sozialgericht: diesmal zugunsten der Augustins. Dass die Familie von Beginn an die Pflege des Kindes selbst übernahm, ist bis heute eine ganz bewusste Entscheidung. „Solange wir können, leisten wir uns das“, sagt Willi Augustin.
Die Tochter in einem Heim unterzubringen, stand nie zur Debatte. Den Eltern aber bleibt die Sorge darüber, was sein wird, wenn sie einmal nicht mehr können oder nicht mehr da sind. Auch deshalb soll ein Sprachcomputer den Weg zu mehr Selbstständigkeit ebnen. Ziel ist es, dass die 28-Jährige auch mit fremden Personen in Kontakt treten und kommunizieren lernt.
Bei ihrer Geburt vor 28 Jahren wog Annerose nur 1500 Gramm.
Die Familie übernahm von Beginn an die Pflege von Annerose selbst.
Christine Augustin ist stolz auf ihre Tochter: „Sie kann mehr, als man ihr zutraut.“Die Bilder und Texte, die die junge Frau von der TASS mit nach Hause bringt, lassen erkennen, dass sich die junge Frau ihrer Einschränkungen bewusst ist und konkret darüber zu reflektieren vermag. Zu einem abstrakten Selbstporträt mit rotem Hintergrund und goldener Zunge, auf der ein schwarzer Strich zu sehen ist, schreibt sie: „Die Zunge in Gold trägt meine Stimme nach außen. Der schwarze Bremsklotz blockiert die Worte.“
Annerose Augustin versteht nicht nur alles, sie lernt auch Sprachen. Sie sieht sich Serien häufig auf Englisch, Spanisch oder Rumänisch auf ihrem Tablet an. Den Controller ihrer Spielekonsole kann sie allein halten und steuern. Wenn sie etwas zeigen oder aber jemanden zum Gehen auffordern möchte, zeigt sie dies mit Gesten. Wenn sie aber die Hand einer ihr fremden Person nimmt und diese an ihre Wange führt, dann ist das etwas sehr Seltenes und ein Zeichen vorsichtiger Sympathie – ein berührendes Erlebnis, das die Betreffende nicht mehr vergessen wird.
Annerose Augustin weiß sehr genau, was sie will und vielleicht noch besser, was sie nicht will. Das zeigt sie sehr deutlich. Eigentlich also nichts Besonderes – und dann doch so besonders.