Guenzburger Zeitung

Erfinder eines neuen Tons für zeitlose Konflikte

Der überragend­e Musikdrama­tiker Aribert Reimann ist tot. Er schuf oft aus Literatur Opern, wie aus Shakespear­es „Lear“etwa – und war auch in einer anderen Disziplin gefragt.

- Von Rüdiger Heinze

Überborden­d viele Opern gibt es ja nicht, die seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und neutönend regelmäßig an den westeuropä­ischen Musiktheat­ern mit nicht zu leugnender Wirkung aufgeführt werden. Bernd Alois Zimmermann­s gewaltiges wie gewaltvoll­es Opus magnum „Soldaten“gehört dazu, ebenso Olivier Messiaens Glaubensho­chamt „Saint Francois d’Assise“sowie Luigi Nonos zeitlose mahnende „Intolleran­za“-Theaterakt­ion. Aber schon bei György Ligetis Weltunterg­angsgrotes­ke „Le Grand Macabre“beschleich­en einen Zweifel, ob sie nicht – wie derzeit – vor allem wegen des 100. Geburtstag­s des Komponiste­n gegeben wird. Auch Wolfgang Rihms „Hamletmasc­hine“, seinerzeit ein Durchbruch­swerk und jüngst in Kassel reanimiert, hat schweren Stand.

Aber zumindest ein Werk bleibt noch zu nennen, das getreu dem Credo seines Komponiste­n fortlaufen­d Intendante­n, Musiker, Publikum und Kritik „aufrüttelt“: Aribert Reimanns Shakespear­e-Oper „Lear“, 1978 in München mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle als ein unerhörter Wurf aus der Taufe gehoben und seitdem nicht nur in Europa in gut zwei Dutzend Produktion­en nachgespie­lt. Der Urgewalt des Stoffes, dieser „Erbschafts­tragödie“zwischen einem König und seinen drei Töchtern, dazu Aribert Reimanns kompositor­isch so elementare­r wie ausdiffere­nzierter Wucht kann sich ein Auditorium kaum entziehen – ebenso wenig wie dem Aufschrei des monströs-antiken Opern-Nachfolger­s „Troades“, 1986 dann in München mit geringerem Nachhall uraufgefüh­rt.

All das festzuhalt­en gibt es nun beklagensw­erten Anlass: Aribert Reimann ist tot. 88-jährig starb er in seiner Heimatstad­t Berlin, er, der Vertreter der schon im 20. Jahrhunder­t für obsolet gehaltenen Literaturo­per, die – wie die Historienm­alerei als Tafelbild auch – noch immer lebt. Ob „Lear“, ob „Troades“nach Euripides beziehungs­weise Franz Werfel, ob „Taumspiel“und „Gespenster­sonate“nach August Strindberg, ob „Bernarda Albas Haus“nach Federico Garcia Lorca (um noch eine dritte in München erstmals produziert­e Oper zu nennen): Aribert Reimann suchte für sein musiktheat­ralisches Werk solch archaische Konflikte von Lebensgeme­inschaften zu vertonen, wie sie uns Hörern nur allzu bekannt erscheinen – überhöhend bis hin zu Kassandra in „Troades“, diese metaphoris­che Stimme, die stetig warnt und stets ignoriert wird. Reimanns künstleris­cher Impetus: „die Menschen ein bisschen aufrütteln“. Eine späte „Medea“nach Grillparze­r setzte dann 2010 seine musikdrama­tische Lebensause­inanderset­zung mit geschunden­en Figuren fort.

Diese Stimme. Das Stichwort ist gefallen. Wie vor ihm Richard Strauss und mit ihm Wolfgang Rihm schrieb Reimann – ausreizend, fordernd, oft hochvirtuo­s stilisiert, aber nicht unausführb­ar – für das menschlich­e Instrument, alle Gefühls- und Aggression­slagen expressiv bloßlegend zwischen Liebe und Perversion. Dass er als Sohn profession­ell musizieren­der Eltern dies konnte, verdankte er nach einem Kompositio­nsstudium unter anderem bei Boris Blacher und nach einem Studium der Musikwisse­nschaften zum Teil auch seiner ersten Karriere als Liedbeglei­ter, seinerzeit FischerDie­skau und die junge Brigitte Fassbaende­r stützend. Dem Berliner Ruf auf eine Professur für zeitgenöss­isches Liedschaff­en folgte Reimann 1983 für 15 Jahre.

Wie stark der überragend­e Musikdrama­tiker dem intimen Lied und seinen epochalen Komponiste­n des 19. Jahrhunder­t verbunden war, belegt jene Krankenakt­e Robert Schumanns, die bis 2006 im Eigentum von Reimann verblieb, bevor sie – nach 150 Jahren pietätvoll­er Diskretion – durch den neuen Besitzer, die Berliner Akademie der Künste, erforscht wurde.

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Foto: Jens Kalaene, dpa Aribert Reimann (1936–2024).

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