Guenzburger Zeitung

Wiedersehe­n nach 80 Jahren

Maria Herbst ist 100, Hildegard Rüb 99 Jahre alt. Die zwei waren Sandkasten­freundinne­n. Als junge Erwachsene verloren sie sich aus den Augen. Sie fanden sich über die Zeitung wieder.

- Von Andreas Jungbauer

Die eine ist gerade 100 geworden, die andere wird es im Dezember. Einst waren sie Nachbarski­nder. Ende der 20er, Anfang der 30er-Jahre des letzten Jahrhunder­ts tobten die zwei Mädchen am gleichen Spielplatz im Würzburger Stadtteil Grombühl, sie wohnten direkt daneben. Nun haben sich Maria Herbst und Hildegard Rüb wieder getroffen, als betagte Seniorinne­n – das erste Mal nach etwa 80 Jahren.

Dass sich die beiden überhaupt wiederfand­en, ist einem Artikel in der Mainpost zu verdanken. An ihrem 100. Geburtstag am 29. Februar war Maria Herbst den Grünen beigetrete­n – um ein Zeichen gegen Rechtsextr­emismus zu setzen. Darüber berichtete die Zeitung. Den Artikel las Betreuungs­assistenti­n Andreea Boncilla einer Gruppe von Bewohnerin­nen und Bewohnern in einem Seniorenhe­im der Arbeiterwo­hlfahrt vor. Dort lebt die 99-jährige Hildegard Rüb seit fünf Jahren. Als sie das Bild in der Zeitung sah, wusste sie sofort: „Das ist die Maria aus dem Nachbarhau­s!“Rüb, eine geborene Hauck, wohnte mit ihrer Familie

Ende der 1920er-Jahre in der Wagnerstra­ße 14, Maria Herbst zwei Nummern tiefer in der 12. Beide erinnern sich noch gut an den nahen Spielplatz: „Da waren zwei Sandkästen, ein Planschbec­ken und in der Mitte das Milchhäusl­e, da gab es sogar Eis.“Im nahen Milchladen holten die Mädchen mit eigenen Kannen Milch für ihre Familien.

Nun also das Wiedersehe­n. Kurz davor ist den Damen die Aufregung anzumerken. Hildegard Rüb ist sich unsicher: Ob sie mich überhaupt noch erkennt? Ist da überhaupt eine gemeinsame Erinnerung? Maria Herbst rätselt ob des Namens „Rüb“der angebliche­n Kindheitsf­reundin: „Ich bin gespannt.“Als ihr die Betreuerin auf dem Weg durch das Heim den Geburtsnam­en „Hauck“verrät, dämmert

es sofort: „Ja klar, die Haucks Hildegard!“Die von nebenan, die mit dem bekannten Ledergesch­äft.

Und dann die Sekunden der ersten Begegnung nach so langer Zeit: Strahlen in beiden Gesichtern, Hildegard Rüb ergreift sofort die Hände „ihrer“Maria, drückt sie fest, „ja gibt’s das denn“, um kurz zu stoppen: „Ich darf doch Maria sagen, oder?“Was Maria Herbst nur recht

ist, auch sie freut sich riesig, ihre Hildegard zu sehen. „Ich hätte sie sofort erkannt, auch wenn wir uns zufällig in der Stadt begegnet wären.“

Die folgenden zweieinhal­b Stunden vergehen wie im Flug – so viel haben sich die 100-Jährige und die 99-Jährige zu berichten, so viele Erinnerung­en auszutausc­hen: über Mitbewohne­r in ihren Häusern, die böse Ordensschw­ester im

Kindergart­en, die ersten Autos in den 30er-Jahren. Am Ende werden sich die beiden in den Arm nehmen, es gibt Abschiedsk­üsschen, man hat die Telefonnum­mern ausgetausc­ht, will in Kontakt bleiben.

Dass sie sich über so viele Jahrzehnte aus den Augen verloren haben, lag nicht zuletzt an der Zerstörung Würzburgs 1945. Die Wohnhäuser lagen in Schutt und Asche, die Familien mussten Zuflucht suchen und einen Neuanfang machen. Zwar hatten sich – nach gemeinsame­r Kindergart­enzeit – die Wege von Maria und Hilde in verschiede­nen Grundschul­en getrennt. Jede hatte ihren Freundeskr­eis. Aber sie wohnten weiter nebeneinan­der, man sah sich gelegentli­ch auf der Straße.

Dann der Abend des 16. März 1945, Bombenalar­m. Beide flohen mit ihren Familien in unterschie­dliche Richtungen. Nach Kriegsende

Beide erinnern sich noch gut an den nahen Spielplatz.

Ab sofort können sie wieder gemeinsam lachen.

kamen die Familien in Notquartie­ren unter. In den Stadtteil der Kindheit kehrten allerdings nur die Haucks zurück, Rübs drei Brüder bauten nach Ende ihrer Kriegsgefa­ngenschaft das zerstörte Haus in der Wagnerstra­ße und das Elternhaus in der Sterngasse auf. Dort eröffneten die Brüder auch das Ledergesch­äft wieder. Im Haus in Grombühl lebte Hildegard Rüb bis vor fünf Jahren, bis dahin konnte sie sich allein versorgen.

Was beide Rentnerinn­en teilen: Sie haben keine eigenen Kinder. An sozialen Kontakten fehlt es ihnen dennoch nicht. Hildegard Rüb wird regelmäßig von Neffen und Nichten zum Essen abgeholt, Maria Herbst trifft sich noch monatlich mit anderen Seniorinne­n und Senioren zum Stammtisch. Wie man bis ins zarte Alter von 100 Jahren geistig und körperlich so fit bleibt? „Dafür gibt es kein Rezept“, sagen beide unisono. Außer vielleicht: beweglich bleiben, im Kopf und in den Gliedern. Und der Humor: Hildegard Rüb und Maria Herbst finden immer etwas zum Lachen. Ab sofort auch wieder gemeinsam.

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Foto: Patty Varasano Maria Herbst (links) und Hildegard Rüb vor wenigen Tagen bei ihrem Wiedersehe­n in einem Seniorenhe­im in Würzburg.

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