„Schläge sorgen für Ohnmachtsgefühle!“
Der Chefarzt über Erziehungsprobleme und das Setzen von Grenzen
Überforderte Eltern, geprügelte Kinder – die MOPO sprach mit Emil Branik, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AK Harburg, über die aktuelle Forsa-studie. MOPO: Das Kind will einen Lolli, bekommt ihn nicht und schmeißt sich im Supermarkt kreischend auf den Boden. Was würden Sie tun? Branik: Dem Kind die Situation erklären, auch Verständnis und Begründung äußern, deutlich machen, wo die Grenze ist.
Und dann doch den Lolli kaufen? Das hängt von der Situation ab. Man muss sich fragen, ob der Wunsch unangemessen ist, darf nicht immer nur die eigene Perspektive sehen, sondern auch die des Kindes. Dann müssten Eltern ganz auf Verbote verzichten? Das nicht. Jedes Kind muss wissen, dass es Grenzen gibt, muss auch mit Frustration umzugehen lernen. Wird diese Frustrationstoleranz nicht entwickelt, ist es gefährdet z. B. gewalttätig zu werden. Verbote müssen aber vernünftig erklärt werden.
Also kein Cola- und Tv-verbot? Nein. Wichtig ist, dass ein altersgemäßes Maß eingehalten wird. Etwa einem Grundschulkind zu sagen: Wenn deine Freunde zu Besuch sind, darfst du auch mal ein Glas Cola trinken. Oder man vereinbart eine halbe Stunde Fernsehen am Tag. 40 Prozent der Eltern geben Kindern einen „Klaps auf den Po“. Hat Sie die Zahl überrascht? Wissenschaftliche Daten aus Dunkelfeldstudien be-
„Die Grenze zur Misshandlung ist fließend“
Dr. Emil Branik
sagen, dass 75 Prozent in der Kindheit physische Gewalt erlebt haben. Zehn Prozent erlitten körperliche Misshandlungen.
Zählt dazu auch die Ohrfeige? Ja. Einem Kind ins Gesicht zu schlagen, ist erniedrigend und sorgt für Ohn- machtsgefühle. Ist auch beim Klaps auf den Po die Grenze überschritten? Die Grenze zur Misshandlung ist fließend. Das Kind trägt nicht gleich irreparable Schäden davon. Aber Schlagen ist grundsätzlich keine gute Idee. Muss ich mit dem Kind zum Arzt, wenn es nicht gehorcht? Bei chronischen Erziehungsproblemen sollte man sich Rat holen.
Was sind Warnsignale? Um das Beispiel Supermarkt aufzugreifen: Wenn sich ein Dreijähriger so verhält, ist das nicht unüblich. Wenn sich aber ein 14Jähriger auf den Boden wirft und Sachen runterreißt, ist das was anderes. Sollten Eltern grundsätzlich auf Bestrafung verzichten?
Man darf Konsequenzen aussprechen. Wenn das Kind immer wieder gesetzte Grenzen überschreitet, sollte man sagen: Wenn das weiter vorkommt, kürze ich zum Beispiel das Taschengeld. Warum werden Jungen öfter geschlagen als Mädchen? Weil sie eher dazu neigen, Aggressionen nach außen zu richten und dann leider entsprechende Gegenreaktionen provozieren. Gibt es denn einen Königsweg der Erziehung? Nein. Es ist langwierig und anspruchsvoll.