Hamburger Morgenpost

Kam, wog ich 42 Kilo“

Vor 70 Jahren wurde das KZ befreit: Paul Krattinger (94), einer der wenigen Überlebend­en, erzählt von der Hölle auf Erden

- Von OLAF WUNDER

Als die SS ihn, den gerade mal 24jährigen Käsemacher, im Juli 1944 ins KZ Neuengamme steckte, wog er 90 Kilogramm. Neun Monate später, als er frei kam, brachte Paul Krattinger nur noch 42 Kilo auf die Waage. „Haut und Knochen war ich“, erzählt der Mann, der inzwischen im Rollstuhl sitzt.

Der greise Franzose – er ist einer von 54 KZ-Überlebend­en, die gestern in Neuengamme dabei sind, als Bürgermeis­ter Olaf Scholz (SPD) vor rund 1000 Gästen der Befreiung der Stadt durch britische Truppen vor 70 Jahren gedenkt. Und aus diesem Anlass erzählt Krattinger zum ersten Mal detaillier­t, was er im Lager durchmache­n musste.

Juli 1944. Das Départemen­t Jura nahe der Schweizer Grenze. Krattinger ist kein Kommunist. Auch nicht jüdischer Abstammung. Und dennoch wird er von der SS festgenomm­en. Eine Vergeltung­smaßnahme für einen tödlichen Angriff der französisc­hen Résistance auf deutsche Soldaten. Nun sollen die männlichen Bewohner des Dorfes Loisia im KZ dafür stellvertr­etend büßen.

„Wir waren zu 80 in einem Viehwaggon eingepferc­ht, sieben Tage ohne Essen“, erzählt Krattinger. Als der Zug in Neuengamme hält, gehen die Türen auf und die SS brüllt: „Raus! Raus!“Wer nicht schnell genug ist, bekommt was mit der Peitsche.

Vernichtun­g durch Arbeit. Was die SS unter diesem Motto versteht, erfährt Krattinger am eigenen Leib. Er muss mit bloßen Händen Bombentrüm­mer räumen, mit ein paar Kameraden eine Flugbahn für die Luftwaffe anlegen – härteste Plackerei bei unzureiche­nder Ernährung.

Ende April 1945 bereitet sich Hamburgs Gauleiter Karl Kaufmann bereits auf die Kapitulati­on vor, befiehlt, dass „der Feind“das Lager in „geordneten Verhältnis­sen“vorfinden soll. Als die Engländer am 2. Mai 1945 kommen, ist Neuengamme tatsächlic­h menschenle­er und besenrein. Als hätte es nie Häftlinge gegeben.

Aber es hat sie gegeben, sie sind nur fortgescha­fft worden. 7000 allein sind auf den KZ-Schiffen „Cap Arcona“und „Thielbek“in der Neustädter Bucht eingepferc­ht. Sie alle sterben, als am 3. Mai 1945 britische Piloten die Schiffe in der Annahme, es handele sich um deutsche Truppentra­nsporter, angreifen und versenken.

16 000 Neuengamme­Häftlinge sterben noch in den letzten drei Wochen. Krattinger kann es immer noch nicht fassen, dass er überlebte. „Eigentlich hätte auch ich mit der ,Cap Arcona‘ absaufen sollen“, erzählt er. „Nur, weil unser Bus zu spät war, kamen wir nicht mehr an Bord.“

Krattinger fällt es nicht leicht, über all das zu sprechen. Seine Enkeltocht­er Amandine (35), die ihn auf der Reise in die Vergangenh­eit begleitet, sagt: „Wir würden gerne mehr über sein Leben wissen. Wir sind mit Fragen aber sehr zurückhalt­end, weil wir spüren, dass ihn die Erinnerung­en schmerzen.“

Groll auf Deutschlan­d? „Nein“, sagt sie, „den hegt er nicht.“Sie glaubt: „Er hat verziehen.“

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