Hamburger Morgenpost

So viele Türken Erdogan

- Analyse von MOPO-Reporter Hasan Gökkaya

Bodrums schönen Stränden zu liegen.

Und auch wenn Experten jetzt das Ende des türkischen Wirtschaft­sbooms prognostiz­ieren: Höhere Renten, eine dritte Brücke über dem blau funkelnden Bosporus, neue Promenaden und asphaltier­te Straßen abseits der Touristeno­rte: Erdogans Vermächtni­s hat sich tief eingebrann­t.

Frauen mit Kopftücher­n, denen in der säkularen Türkei der Zugang in die Business Class verwehrt wurde, sehen das nicht anders. Sie laufen inzwischen erhobenen Hauptes über die Boulevards. Minderwert­igkeitsgef­ühle gegenüber liberalen Hipstern und Frauen in Miniröcken müssen sie nicht mehr haben. Weniger Meinungs- und Pressefrei­heit, dafür ein besseres Leben: 50 Prozent der Türken haben bei der letzten Wahl für Erdogans AKP gestimmt – und sich damit fürs Letztere entschiede­n. Deutsche, die das kritisiere­n, haben nicht unrecht. Aber aus dem Herzen Europas auf Menschen zeigen, die weit hinterm Bosporus leben, ist leicht. Die Welt hört Erdogan nicht gerne zu, wenn er im autoritäre­n Ton redet. Seine Anhänger hingegen fallen in einen Trancezust­and, sobald er ans Mikrofon tritt. Keine Frage: Erdogan ist ein unglaublic­h guter Redner. Vermutlich der mitreißend­ste, den die Türkei je gesehen hat. Wie gut, hat sich gezeigt, als er 2010 und 2014 auf Deutschlan­dtour war. „An das arrogante Ausland“, rief er seinen Kritikern zu, „wir sind nicht mehr die Türkei von gestern!“Das Ergebnis hat sich noch Jahre später ausgezahlt: Im November 2015 haben 60 Prozent der in Deutschlan­d lebenden Türken die islamischk­onservativ­e AKP gewählt. Viele der Wähler sind nicht einmal streng religiös. Das ist aber egal, denn Erdogan ist ein Stratege. Er weiß, dass die Deutsch-Türken zwischen zwei Welten leben. Hin und her gerissen zwischen der deutschen und türkischen Gesellscha­ft fühlen sich viele in der Ferne alleingela­ssen. Ob in Hamburg, Köln oder München. Ob Akademiker oder Hartz-4-Empfänger: Türken sind immer Türken geblieben. Weil sie nicht anders wollten oder man sie nicht gelassen hat. Ein Staatspräs­ident, der in dem Moment lautstark „Assimilati­on ist ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit“ruft, kommt genau richtig. 2015 konnten in Deutschlan­d lebende Türken erstmals für die türkischen Parlaments­wahlen wählen, indem sie ihre Kreuze in türkischen Konsulaten machten. Auf die Idee, gezielt um die Stimmen von Deutsch-Türken zu buhlen, ist vorher noch kein türkischer Politiker gekommen.

Jetzt aber bleibt nur Hass oder Liebe: Die ihn hassen, werfen ihm vor, ein Diktator zu sein. Jemand, der ohne Beweise Leute einsperren lässt und die Gewaltente­ilung aushebelt. Mitten in Deutschlan­d bricht jetzt Streit in türkischen Familien aus. Wenn wieder ER das Thema beim Essen ist. Erdogan spaltet das Land – und Familien.

Denn es gibt viele, die ihn lieben. Sie sagen danke – für eine neue Identität. Danke für die breite Brust, die sie haben, weil die Türkei kein Dritte-Welt-Staat mehr ist. Sondern ein Land, an dessen Tür die Obamas und Merkels klopfen, weil sie die Türkei brauchen. Nicht andersrum. Das werden viele Türken Erdogan nie vergessen, ob in Deutschlan­d oder in der Türkei – und wenn sie sich dafür vor rollende Panzer stellen.

Auf die Idee, gezielt um die DeutschTür­ken zu werben, kam vor ihm keiner.

 ??  ?? Demo vor dem Konsulat: Nach dem Putschvers­uch in der Türkei gingen auch in Hamburg viele Deutsch-Türken für Erdogan auf die Straße.
Demo vor dem Konsulat: Nach dem Putschvers­uch in der Türkei gingen auch in Hamburg viele Deutsch-Türken für Erdogan auf die Straße.

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