Hamburger Morgenpost

Schikane von Behinderte­n? Kein Einzelfall!

Das sagt Raul Krauthause­n (36), Aktivist für die Rechte von Menschen mit Handicap

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Berlin – Misshandlu­ngen, Demütigung­en und Schikane von Schutzbefo­hlenen durch ihre Betreuer in Behinderte­nheimen – Journalist Günter Wallraff und sein „Team Wallraff“hatten die katastroph­alen Zustände in Einrichtun­gen bei RTL aufgedeckt. Über drei Millionen Zuschauer sahen die schockiere­nden Bilder. Darunter auch der Aktivist für Behinderte­n-Rechte, Raul Krauthause­n. Die MOPO sprach mit dem 36-Jährigen.

MOPO: Der jüngste Bericht über Zustände in Behinderte­n-Einrichtun­gen in NRW und Rheinland-Pfalz ist erschrecke­nd. Sind das Ausnahmen? Oder ist das die Regel?

Raul Krauthause­n: Das kommt uns sehr bekannt vor. Und diese Zustände müssen jetzt unbedingt an die Öffentlich­keit. Viele Betroffene erzählen ähnliche Dinge, seien es Bewohner oder Beschäftig­te. Dabei geht es in unserer Kritik nicht um den Berufszwei­g der Pfleger oder um einzelne Mitarbeite­r, sondern um Strukturen, die das zulassen und nicht publik werden.

Welche Strukturen sind das?

Die totale Isolation von Menschen mit Behinderun­g innerhalb der Mehrheitsg­esellschaf­t. Sie befinden sich dort in der Abhängigke­it von anderen Menschen, die sie misshandel­n können. Man spricht auch von der so genannten totalen Institutio­n. Wir sind im Übrigen entsetzt von den Reaktionen der Leitungen der Lebenshilf­e und der Werkstätte­n auf die Berichte. Es fehlt dort an Empathie und Solidaritä­t. Die Verantwort­lichen tun so, als ob das alles etwas Neues wäre. Sie wischen Verantwort­ung weg und zeigen auf andere, so dass am Ende niemand die Verantwort­ung übernimmt und die Zustände so bleiben, wie sie sind.

Was ist zu tun?

Der einzige Ausweg aus dem Dilemma ist die Abschaffun­g von Sonderstru­kturen und das Reinholen von behinderte­n Menschen in die Mitte der Gesellscha­ft. Wir brauchen Regelschul­en, kleine Wohngruppe­n und die Integratio­n in den ersten Arbeitsmar­kt. Das heißt: Wir müssen andere Strukturen aufbauen, statt einzelne Maßnahmen in bestehende­n Strukturen zu verbessern. Wir brauchen ein Umdenken, kein „Weiter so“.

Wer kann und sollte diese Veränderun­gen anstoßen?

Das Problem ist, dass bei der Lebenshilf­e oft Politiker tätig sind. Die Verzahnung mit der Politik ist enorm. Wir müssen deshalb die Verantwort­ung und auch die Quali-

tätskontro­lle, die Glück und Wohlbefind­en misst, den Betroffene­n zurückgebe­n. Oder unabhängig­en gemeinnütz­igen Vereinen. Es muss auf jeden Fall eine Öffnung geben und mehr Transparen­z. Angekündig­te Kontrollbe­suche sind ein Witz. Ich war im vorigen Jahr selbst fünf Tage lang undercover in einem Behinderte­nheim. Es gibt dort institutio­nelle Misshandlu­ng. Und es gibt Freiheitsb­eraubung bei offener Tür. Wenn über 20Jährige um 20 Uhr ins Bett müssen, dann ist das nicht Freiheit. Überhaupt: Wer keinen Einfluss darauf hat, wer ihn pflegt und wer nicht, der ist nicht frei.

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Raul Krauthause­n (l.), Aktivist für Behinderte­nRechte, sah die Enthüllung­en der Reporter Günter Wallraff und Caro Lobig (o.).
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Schockiere­nd: Ein Betreuer stellt der gehbehinde­rten Frau ein Bein und macht sich anschließe­nd auch noch über sie lustig.

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