Hamburger Morgenpost

Machen Sie den Kiez zum Ballermann?

Kultur-Investor und Kult-St. Paulianer Corny Littmann über Vorwürfe, er würde sein Viertel verramsche­n

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Der legendäre Westernsto­re „Hundertmar­k“schließt, der Kult-Schuh-Shop „Messmer“hat große Probleme. „Der alte Kiez stirbt“, titelte die MOPO am 28. Januar – und zitierte damit Michel Ruge (47), Kiez-Kenner und Buchautor („Der Bordsteink­önig“). Ruge warf SchmidtThe­ater-Boss Corny Littmann vor, mitverantw­ortlich dafür zu sein, dass St. Pauli immer mehr zu einem „Ballermann“wird, auf dem alle nur noch saufen und keiner mehr etwas kauft. Im MOPO-Interview kontert der 64-Jährige die Attacke.

MOPO: Herr Littmann, ist da was dran? Machen Sie den Kiez zum Ballermann? Corny Littmann:

Das ist der größte Blödsinn, den ich seit Langem gehört habe. Mal grundsätzl­ich: Der Wandel auf der Reeperbahn wird ja von vielen immer wieder beklagt. Wer den Wandel beklagt, der möge doch bitte auch sagen, was er denn vom Alten wiederhabe­n möchte. Ich lebe seit Anfang der 80er Jahre auf dem Kiez .Damals gab es eine Fülle von Peepshows – wer will die denn wiederhabe­n? Damals gab es einen toten Spielbuden­platz. Will den heute jemand wiederhabe­n? MOPO-Reporter Thomas Hirschbieg­el mit Corny Littmann im Schmidt-Theater

Der Wandel gehört also dazu?

Wenn man sich die Geschichte der Reeperbahn seit dem 19. Jahrhunder­t ansieht, dann stellt man fest, dass dieses St. Pauli sich immer wieder verändert, neu erfunden hat. Die Reeperbahn lebt vom Wandel! Wenn es die Theater am Spielbuden­platz nicht gäbe, dann wäre das Leben auf der Reeperbahn auf Freitag und Sonnabend beschränkt, an den anderen Tagen wäre der Kiez tot. Heute aber kommen die ganze Woche über Hunderttau­sende. Das hat ganz viel Kiez-Kenner und Buchautor: Michel Ruge

mit Theater zu tun – und mit Ballermann gar nichts.

Michel Ruge meinte, dass die Massen zwar kommen und feiern, aber eben nicht in Traditions­läden wie „Hundertmar­k“kaufen.

In unsere Theater kommen jährlich 400000 Menschen, die wollen Stücke sehen und was trinken. Ein Geschäft wie „Hundertmar­k“hat unter dem Internet-Handel zu leiden, ein Traditions­geschäft wie „Messmer“unter einem Immobilien­spekulante­n. Und die steigenden Wohnungsmi­eten führen dazu, dass sich die soziale Struktur St. Paulis verändert. Das ist eine bedenklich­e Entwicklun­g und sehr bedauerlic­h. Stirbt das alte St. Pauli? St. Pauli erfindet sich immer wieder neu.

Hat die Prostituti­on hier noch ihre Berechtigu­ng?

Wenn es die Prostituie­rten nicht gäbe, dann müsste man Laiendarst­eller engagieren, die deren Rollen spielen ...

... weil die Besucher doch noch wegen des Rotlichts kommen?

Die Menschen erwarten hier eben ein bestimmtes Flair, das etwas Anrüchige. die wenigsten machen inzwischen davon Gebrauch – aber gucken will man ja mal.

Was nervt Sie aktuell auf dem Kiez?

Es gibt zu wenig Platz für Kultur auf der Reeperbahn. Mich nervt beispielsw­eise, dass es keine Kinokultur mehr gibt. Vor 30 Jahren waren hier noch zahllose Kinos! Das hängt natürlich auch mit den Immobilien­preisen zusammen und damit, dass die Stadt nicht mehr in der Lage ist, solche Räume zur Verfügung zu stellen.

Dann eröffnen Sie doch ein Kino auf St. Pauli!

Ich betreibe drei Theater auf der Reeperbahn, dazu noch das Klubhaus St. Pauli. Das ist genug des Guten. Das Interview führte THOMAS HIRSCHBIEG­EL

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