Hamburger Morgenpost

Der Hunger-Winter

Marz 1947: Klirrende Kalte und katastroph­ale Lebensmitt­el-Versorgung machen den Alltag in der Stadt zum Uberlebens­kampf

- Von OLAF WUNDER

Hunger und Frost rauben einem Menschen den Verstand. Alle Gedanken drehen sich nur noch darum, irgendwie den Tag zu überstehen. Unter solchen Umständen wird selbst der Ehrlichste zum Dieb – der Überlebens­wille treibt ihn dazu. Vor genau 70 Jahren hat der „Weiße Tod“die Stadt im Griff: Zeitzeugen sprechen von „Todeskälte“. Ein Winter mit Temperatur­en von bis zu minus 25 Grad – eine Katastroph­e in einer Stadt, die nur noch aus Trümmern besteht. Unglaublic­he Szenen spielten sich damals in Hamburg ab: Menschen verfeuerte­n ihr Mobiliar, um nicht zu erfrieren. Sie zogen in ihrer Not in die Grünanlage­n, fällten Bäume und machten Parkbänke zu Kleinholz, um etwas Brennbares für den Ofen zu haben. Männer, Frauen und Kinder schlichen nachts an Bahngleise­n herum in der Hoffnung, auf einen Kohlenzug aufspringe­n und den Rucksack vollmachen zu können. Sie machten Jagd auf Hunde und Katzen. Auch Alsterschw­äne und Ratten wurden verzehrt. Der Winter 1946/47 war die Hölle.

Es war der kälteste seit Beginn der Wetteraufz­eichnungen. Das galt für ganz Europa, aber zerstörte Großstädte wie Hamburg traf es mit doppelter Wucht. Von Not und Elend gezeichnet­e Menschen hausten in Kellerlöch­ern, Ruinen und Nissenhütt­en, in denen sie der Kälte schutzlos ausgeliefe­rt waren. Winterklei­dung hatte kaum einer. Mancher verfügte ja nicht einmal über vernünftig­es Schuhwerk.

In drei Wellen erreichte der Frost die Hansestadt. Mitte Dezember 1946 wurden Temperatur­en von minus 10 bis minus 20 Grad gemessen. Um Weihnachte­n herum setzte zwar Tauwetter ein, aber wer gehofft hatte, dass das Schlimmste damit vorüber wäre, sah sich getäuscht: Im Januar gingen die Temperatur­en wieder tüchtig in den Keller. Und von der zweiten Januarhälf­te an bis weit in den Februar herrschte Dauerfrost von minus 20 Grad – und kälter. Den tiefsten Wert erreichten die Temperatur­en am 25. Februar 1947 mit minus 25 Grad.

Die Versorgung­slage in der Stadt: eine einzige Katastroph­e. Aus Mangel an Vorräten mussten die Nahrungsmi­ttelration­en laufend nach unten korrigiert werden. Monatelang standen einem Erwachsene­n im Durchschni­tt weniger als 1000 Kalorien zu – ein Drittel dessen, was er eigentlich benötigt. Oftmals warteten die Menschen viele Stunden vor den Geschäften, und wenn sie an der Reihe waren, war nichts mehr da. Glücklich konnte sich schätzen, wer noch irgendetwa­s hatte, was sich auf dem Schwarzmar­kt gegen Essen eintausche­n ließ.

Der Warenverke­hr brach zuweil sammen, aufgrund der Kälte die Flüsse zugefroren und ein Transport auf dem Wasserweg nicht möglich war. Straßen und Schienenne­tz waren wegen der Kriegsschä­den und der enorne men Schneemass­en nur schwer passierbar. Besonders dramatisch wurde es, als auch die Versorgung mit Kohle ins Stocken geriet: Die Elektrizit­ätswerke, die ohne das schwarze Gold keinen Strom erzeugen konnten, mussten den S-Bahn- und Straßenbah­n-Betrieb einschränk­en. Wegen der mangelnden Stromverso­rgung stellten 700 Firmen den Betrieb ein, Schulen wurden geschlosse­n, Gaststätte­n durften nur bis 19 Uhr öffnen. 37000 Bürger waren „stromarbei­tslos“– und damit ohne Erwerb.

Angesichts der großen Not der Menschen vielleicht nur eiRandersc­heinung, aber die Kälte bedrohte auch die Existenz der Staatsoper, des Schauspiel­hauses und des Thalia-

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 ??  ?? Was für ein Elend: Dieser kleine Junge sucht in einer Mülltonne nach Essbarem. Im Hintergrun­d: die Kriegsruin­en Hamburgs
Was für ein Elend: Dieser kleine Junge sucht in einer Mülltonne nach Essbarem. Im Hintergrun­d: die Kriegsruin­en Hamburgs
 ??  ?? Draußen sind minus 25 Grad und drinnen scharen sich die Leute um den Kachelofen, der ein bisschen Wärme spendet.
Draußen sind minus 25 Grad und drinnen scharen sich die Leute um den Kachelofen, der ein bisschen Wärme spendet.
 ??  ?? Am Elbufer in Blankenese: Diese alte Frau sammelt am Strand Treibholz, um damit ihren Ofen anzufeuern.
Am Elbufer in Blankenese: Diese alte Frau sammelt am Strand Treibholz, um damit ihren Ofen anzufeuern.
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 ??  ?? Karitative Organisati­onen im Ausland sammeln Geld, um den hungernden Deutschen zu helfen. Diese Familie freut sich über ihr „Care-Paket“.
Karitative Organisati­onen im Ausland sammeln Geld, um den hungernden Deutschen zu helfen. Diese Familie freut sich über ihr „Care-Paket“.

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