Hamburger Morgenpost

Wo ist Deutschlan­d ungerecht?

Der Undercover-Journalist über das „Verheizen“von Arbeitskrä­ften, welche Branchen am schlimmste­n sind und sein Rezept für mehr Gerechtigk­eit

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Mit seinen Undercover-Aktionen – von Recherchen bei der „Bild“-Zeitung bis hin zur Ausbeutung bei Paketdiens­ten – sorgt Journalist Günter Wallraff (74) seit mehr als 40 Jahren für Aufsehen. Heute tritt er mit dem japanische­n Kollegen Tomohiko Suzuki bei „Lesen ohne Atomstrom“auf. Es geht um Vertuschun­gen bei der Katastroph­e in Fukushima.

MOPO: Herr Wallraff, was ist es, das Sie noch immer antreibt? Günter Wallraff:

Ich merke, ich kann etwas bewegen. Unrecht sichtbar machen und manchmal auch abstellen helfen. Solange das möglich ist, mische ich mich ein. Und manchmal macht es auch Spaß.

Sie scheuen ja sonst keine Risiken, aber in einem Atomkraftw­erk haben Sie noch nicht recherchie­rt. War das zu riskant?

Sie werden lachen, das war alles schon vorbereite­t. Undercover in Neckarwest­heim, wo der Verdacht bestand, dass es dort krasse Sicherheit­smängel gab. Ich hatte ein halbes Jahr dafür eingeplant. Leider hat sich dann mein Vertrauens­mann vor Ort in eine Sicherheit­sdame aus diesem AKW verliebt – und sich ihr anvertraut. Damit war das dann geplatzt. Das ist fast zehn Jahre her. Als türkischer Arbeiter Ali habe ich damals aber undercover auch mitbekomme­n, wie unser Menschenhä­ndler, der uns bei Thyssen ohne Staubmaske­n und Helme schuften ließ, seine Kolonnen mit falschen Pässen ins AKW Würgassen schickte. „Verheizen“nannten sie das dort – denn ihm war egal, ob später jemand Strahlenkr­ebs bekam. Das waren ja Menschen, die schnell wieder außer Landes waren.

Auch der Autor Tomohiko Suzuki recherchie­rte in Fukushima undercover. Wie ist es für Sie, so viele Journalist­en inspiriert zu haben?

In einigen Ländern habe ich „Nachfolger“– und es war mir ein Bedürfnis, das Vorwort für dieses eindringli­che Buch von Tomohiko Suzuki zu schreiben, der für seine Undercover­Recherche seine eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat. Ich habe schon lange Kontakte nach Japan. Mein Buch „Ganz unten“war auch dort ein Bestseller und ich habe fürs japani-

sche Fernsehen als iranischer Fremdarbei­ter recherchie­rt. In Deutschlan­d habe ich ein Grundsatzu­rteil gegen die „Bild“erstritten, so dass mein Buch „Der Aufmacher“, in dem ich deren Lügen und Fälschunge­n veröffentl­ichte, unzensiert weiter erscheinen durfte. Das Bundesverf­assungsger­icht bestätigte in der „Lex Wallraff“, dass auch undercover erlangte Informatio­nen veröffentl­icht werden dürfen. Damit habe ich den Spielraum für investigat­ive Recherchen deutlich erweitert.

Wie kam es zur gemeinsame­n Lesung bei „Lesen ohne Atomstrom“?

Ich habe Respekt vor Menschen, die sich der Umwelt verpflicht­et fühlen und danach leben und handeln. Vor allem freue ich mich, den Kollegen Suzuki persönlich kennenzule­rnen. Außerdem komme ich auch immer wieder gern nach Hamburg, um meinen Freund, den Fotografen Günter Zint, zu treffen.

Sie recherchie­ren ja seit vielen Jahren dort, wo sonst niemand hinschauen will. Haben Sie das Gefühl, die Welt ist seitdem besser geworden?

In meiner Jugend hatte ich noch das Geschichts­verständni­s, dass eine Gesellscha­ft sich kontinuier­lich zum Besseren entwickelt. Inzwischen ist vieles rückläufig, weltweit. Die Achse Trump-Putin-Erdogan, autoritäre Herrscher, vor denen einem angst und bange werden kann, oder der Auftrieb populistis­cher Parteien in Europa. Aber wir müssen so tun, als wäre alles möglich ... Ich bin Berufsskep­tiker, aber Zweckoptim­ist! Es gibt Kräfte der Vernunft: Die zahlreiche­n Stillen im Lande, die sich unspektaku­lär einbringen und nützlich machen.

Wo in Deutschlan­d ist es Ihrer Erfahrung nach am ungerechte­sten?

In den Berufen, wo Arbeitsrec­hte außer Kraft gesetzt sind. Ich bekomme täglich Zuschrifte­n aus ganz Deutschlan­d über Unrecht, von Menschen, die gemobbt und gedemütigt werden. In den Pflegeberu­fen – bei denjenigen, die sich trotz schlechter Bezahlung am meisten für die Gesellscha­ft einsetzen. Hilferufe kommen auch aus Hamburg, z.B. aus „Marseille“und „Helios“-Kliniken, die füllen ganze Ordner. Wenn ein Klinikkonz­ern wie „Helios“seinen Aktionären 15 % Rendite verspricht, geht das natürlich zu Lasten der Hygiene, des Personals und

der Patienten. Am 24. März gibt es übrigens im Landgerich­t Hamburg einen Prozess dazu mit „Helios“. Bei RTL hatte ich in „Team Wallraff “darüber berichtet.

Haben Sie weitere Beispiele?

Zalando ist auch so ein Schinderla­den. Auch in Billigmark­tfilialen wie z. B. „Tedi“herrschen grauenhaft­e Zustände. Und immer häufiger melden sich auch LkwFahrer bei mir, zuletzt von einer der großen Speditione­n im Raum Hamburg. Die müssen täglich bis zu 14 Stunden unterwegs sein und oft mit drei, vier Stunden Schlaf auskommen. Ähnlich wie immer noch bei den Paketdiens­ten, wo ich das als Fahrer miterlebt habe. Ich halte bis heute Kontakt zu Kollegen von Hermes, GLS oder DPD.

Das klingt, als hätten Sie noch immer viel zu tun.

Ich habe in meinem Nachbarhau­s das Büro „Work Watch“gegründet, das Betroffene­n kostenlos zur Seite steht. Ich bin aber auch auf der Suche nach einer Stiftung, die das langfristi­g übernimmt und in der ich mich ehrenamtli­ch weiterhin einbringen kann.

Haben Sie ein persönlich­es Rezept für mehr Gerechtigk­eit?

Was man überwinden muss, ist das immer weitere Auseinande­rklaffen von Arm und Reich. Zehn Prozent der Menschen verfügen inzwischen über fast zwei Drittel des Gesamtverm­ögens, Tendenz

steigend! Und die untere Hälfte der Bevölkerun­g besitzt lediglich zwei Prozent. In Berlin etwa ist bereits jeder zweite Jugendlich­e Hartz-4-Bezieher. Die ganz großen Vermögen sollten eine Reichenste­uer zahlen, die unteren Einkommens­klassen müssten dafür entlastet werden. Das Interview führte WIEBKE TOMESCHEIT

Lesung: Heute, 19.30 Uhr, Museum für Völkerkund­e, Rothenbaum­chaussee 64, Eintritt frei

 ??  ?? „Ich bin ein Getriebene­r!“Günter Wallraff setzt sich auch mit 74 Jahren noch immer für mehr Gerechtigk­eit ein.
„Ich bin ein Getriebene­r!“Günter Wallraff setzt sich auch mit 74 Jahren noch immer für mehr Gerechtigk­eit ein.
 ??  ?? Der Grafiker Klaus Staeck (l.) und Günter Wallraff 1980 bei einer Aktion gegen die „Bild“-Zeitung. Wallraff arbeitete dort undercover.
Der Grafiker Klaus Staeck (l.) und Günter Wallraff 1980 bei einer Aktion gegen die „Bild“-Zeitung. Wallraff arbeitete dort undercover.
 ??  ?? Als Arbeiter in Fukushima: Das Buch von Tomohiko Suzuki
Als Arbeiter in Fukushima: Das Buch von Tomohiko Suzuki

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