Der Kampf um die Straße
Immer mehr Obdachlose in Hamburg, immer mehr Probleme: Woher die Bettler kommen, wie die Stadt gegen sie vorgeht
Eingemummelt in Schlafsäcke liegen die Männer auf ihren Isomatten. Neben ihnen stapeln sich Taschen, volle Plastiktüten, Flaschen. Dieses Bild sehen Pendler morgens an vielen Ecken in der City, wenn sie aus dem Hauptbahnhof zu ihren Büros strömen. In Zukunft sollen die Obdachlosen hier durch einen Weckdienst um 6.30 Uhr verscheucht werden. Denn in Hamburg gibt es immer mehr Obdachlose – und das sorgt für Konflikte: mit der Stadt, aber auch untereinander.
Die Obdachlosen in der Innenstadt sind nur die Spitze des Eisbergs. Tatsächlich geht die Sozialbehörde von etwa 2000 Wohnungslosen in Hamburg aus. Eine Zahl, die sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre verdoppelt hat. Zum einen gibt es durch die Wohnungsnot mehr deutsche Obdachlose. Zum anderen kommen durch die EU-Osterweiterung Polen, Rumänen, Bulgaren und Slowaken hinzu. So wie Oliver. Der 40Jährige war in der Slowakei arbeitslos, jetzt versucht er hier sein Glück. Er sitzt mit einem Schild in der Mönckebergstraße und hofft auf Kleingeld – wie so viele andere. „Wenn das Wetter nun besser wird, kommen immer mehr“, sagt Michael Gündel (42), Kellner in einem nahen Café. Er beobachtet ehrliche Bettler, aber auch viele Trickser und Täuscher, die nur so tun, als könnten sie nicht richtig gehen. „Die Passanten, die ihnen Geld geben, sind oft sehr leichtgläubig. Das nimmt
„Ins Notprogramm gehe ich nicht, da gibt’s nur Ärger.“Frank (41)
teilweise richtig mafiöse Zustände an in der Szene.“
Raphael (30), selbst Obdachloser aus Österreich, weiß schon, was passiert, wenn Ende März das Winternotprogramm ausläuft. „Dann gibt es hier in der Innenstadt noch mehr Stress: Prügeleien, Diebstähle – dann müssen wir auf unseren Sachen schlafen.“
Streit um Schlafplätze, um die besten Bettel-Orte und auch Spenden: Vor allem Rumänen und Bulgaren, sagen viele Obdachlose, würden für Probleme sorgen. Frank (41), einst Geschäftsführer und jetzt Obdachloser, ist richtig sauer: „Manche schmeißen sogar das Essen weg, das sie an Ausgabestellen erhalten. Keine Ahnung, was in denen vorgeht. Ins Winternotprogramm gehe ich nicht mehr, da gibt es nur Ärger.“ Abgerissene Kleider, Einkaufswagen oder Plastiktüten und Pulle in der Hand – dieses Klischeebild vom Obdachlosen trifft aber nur auf eine kleine auffällige Gruppe zu. Denn die meisten Obdachlosen sind auf den ersten Blick gar nicht als solche zu erkennen. Es gibt auch wohnungslose Tagelöhner – etwa aus Rumänien und Bulgarien, die täglich zur Arbeit gehen. Doch die Arbeitsverhältnisse sind teils so ausbeuterisch, dass sie in ihren Autos schlafen. Für mehr reicht das Geld nicht.
Andere dürfen in Gruppenzimmern auf den Werksgeländen ihrer Arbeitgeber übernachten. Wenn sie den Job verlieren, sind sie von einem Tag auf den nächsten obdachlos. Andere versuchen, sich mit Betteln oder Straßenmusik durchzuschlagen.
Und es gibt natürlich auch die Männer, die seit Jahren Platte machen, die schwer alkoholkrank sind und die auf der Straße zu sterben drohen. Streetworker bezeichnen sie als die Gruppe, der „nur noch palliativ zu helfen ist“.
Im „Cafée mit Herz“auf St. Pauli (beim Hotel Hafen Hamburg) können Obdachlose kostenlos frühstücken und eine warme Mittagsmahlzeit essen. Dort stehen viele Männer und einige Frauen gedul
dig Schlange. Es geht gesittet zu, niemand ist offensichtlich betrunken. Viele haben Rucksäcke und sogar Rollkoffer mit ihrem gesamten Hab und Gut dabei.
Mittlerweile werden in der rein spendenfinanzierten Einrichtung jeden Tag 300 Obdachlose verpflegt. Drei Viertel von ihnen sind in Hamburg gestrandet, sie kommen aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Versorgt werden sie größtenteils von Ehrenamtlichen.
Die gute Seele des Hauses ist Margot Lenz (65). Sie leitet das Haus, das kein Geld von der Stadt bekommt. „Als ich vor zehn Jahren hier anfing, haben wir pro Jahr 24 000 Essen ausgegeben, jetzt sind es 100000“, sagt die resolute Frau. Das Vierfache innerhalb weniger Jahre.
Auch die Zusammensetzung der Bedürftigen habe sich seitdem stark verändert. „Damals waren es vor allem Deutsche, nur ein Viertel waren Ausländer. Jetzt ist es genau andersherum.“Die meisten Gäste kommen aus Polen. Ein Teil von ihnen war dort bereits obdachlos und hat Alkohol-Probleme.
Alle Schützlinge des Cafée mit Herz sind völlig mittellos, haben keinen Anspruch auf staatliche Hilfen und nicht einmal eine medizinische Versorgung. Daher gibt es immer mittwochs eine kostenlose Sprechstunde bei Niels-Peter Homann. Der Arzt aus Finkenwerder übernimmt das ehrenamtlich. Er muss Platzwunden behandeln, offene Beine. „Und manchmal sieht man nackte Knochen am Fuß.“Es gibt auch herzkranke Patienten, die Medikamente brauchen, und Diabetiker, denen das Insulin fehlt.
Damit beim Cafeé mit Herz alles rundläuft, sind viele Ehrenamtliche im Einsatz. So wie „Locke“, der in der Küche hilft und selbst einmal als Obdachloser hier zum Essen kam. Mittlerweile hat er wieder eine Wohnung.
Die Hilfsbereitschaft in Hamburg ist immer noch groß, wie etwa der Gabenzaun am Hauptbahnhof beweist. Dort werden an einem Absperrzaun, der eigentlich verhindern soll, dass sich Obdachlose hinsetzen, Kleiderspenden und Hygieneartikel in Beuteln für Bedürftige aufgehängt. Die Begeisterung der Bahn und des Bezirks Mitte für diese unbürokratische Hilfe hält sich sehr in Grenzen. Denn auf der anderen Seite beschweren sich Geschäftsleute und Pendler zunehmend, weil sie sich durch Obdachlose belästigt fühlen, insbesondere durch aggressive Bettler und Straßenmusiker. Deshalb kündigt Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) seit Monaten immer neue Maßnahmen an, die es den Obdachlosen in der City ungemütlich machen sollen.
Aus Sicht der Sozialverbände ist auch die Politik schuld daran, dass in diesem Winter noch mehr Menschen in Geschäftseingängen, unter Brücken und in Parks schlafen. Denn erstmals seit Bestehen des Winternotprogramms wird dort der Zugang kontrolliert. Viele Osteuropäer dürfen nicht mehr hinein. Stephan Nagel, Referent für Wohnungslosenhilfe bei der Diakonie: „Menschen wurden dadurch aus dem Winternotprogramm herausgedrängt.“
Trotzdem sind die 850 Schlafplätze im Winternotprogramm zu 90 Prozent belegt (vor fünf Jahren gab es nicht einmal 200 Plätze). Laut Sozialbehörde haben Mitarbeiter dort mit fast 900 Personen gesprochen und ihnen die Rückkehr in ihre Heimatländer nahegelegt. Das Ergebnis: Ein Drittel von ihnen hat eine Fahrkarte akzeptiert und Hamburg den Rücken gekehrt.