Warum halten sie nicht zu uns?
Sie leben in Freiheit und Demokratie – und verehren Autokraten wie Putin und Erdogan
Hamburg – Maxim und Andrej (Namen geändert) sind zwölf Jahre jung und besuchen die sechste Klasse eines Hamburger Gymnasiums. Sie wären gern harte Jungs, „Go Hard Like VladiLiebmir Putin“heißt ihr lings-HipHop-Song der russischen Band „Architects Music Group“. Zudem trainieren sie in einer von einem Deutsch-Russen geleiteten Kampfsportgruppe in Osdorf. Für die meisten ihrer Klassenkameraden haben sie genauso wenig übrig wie für deutsche Politik – „alles Pussys“, so ihr Urteil. So wie viele Deutsch-Türken, Deutsch-Polen, Deutsch-Russen identifizieren sie sich stärker mit dem Herkunftsland ihrer Eltern.
Bei einer Massendemonstration von Erdogan-Anhängern gingen im Juli 2016 40000 Deutsch-Türken in Dortmund auf die Straße. Im Januar 2016 protestierten
bundesweit Tausende Deutsch-Russen gegen angebliche Ausländergewalt – Auslöser war eine Falschmeldung über die Vergewaltigung einer 14-Jährigen, die nie stattgefunden hatte.
Und spätestens seitdem fragt sich die deutsche Öffentlichkeit: Warum lieben viele dieser Menschen ihre neue Heimat nicht? Warum identifizieren sie sich stärmit ker ihren autoritär geprägten, abgewirtschafteten Herkunftsländern?
„Zweisprachige Menschen glauben eher Informationen in ihrer Muttersprache“, sagt der deutschrussische Schriftsteller Wladimir Kaminer („Russendiszur ko“) MOPO. „Auch wenn sie beide Sprachen beherrschen – die Sprache, in der sie sozialisiert wurden, besitzt eine höhere Glaubwürdigkeit“, glaubt der 49jährige Wahl-Berliner.
Tatsächlich betonen Maxim und Andrej oft und gern, dass sie Russland für das bessere Land halten – die Eltern geben die Richtung vor. „Kaczynski macht aus Polen wieder was!“, so die Deutsch-Polin Katerina jüngst in der „FAZ“. Und begründet: Werte „wie Familie und Glauben zählen hier nicht mehr“.
Prof. Dr. Boris Nieswand, Migrationssoziologe von der Uni Tübingen, warnt aber vor Pauschalisierungen: „JugendMilieus wie die HipHopSzene leben von Provokationen. Und nichts erschüttert das ,weiße Mittelklasse-Milieu‘ wirkungsvoller als Attacken gegen Frauengleichstellung, Homosexuelle, Toleranz insgesamt. Das zieht immer. Wir kennen das ja von den amerikanischen Vorbildern.“
Dass sich viele DeutschRussen oder -Türken schwertun, Deutschland zu lieben, räumt Prof. Nieswand aber ein: „Das hat einerseits viel mit der aktuellen Polarisierung im politischen Verhältnis der jeweiligen Staaten (Türkei und Russland) zu Deutschland zu tun“, begründet er gegenüber der MOPO. Was heißen soll: Kommt es zum Showdown alte gegen neue Heimat, steht einem die erstgenannte näher. „Zudem ist der Einfluss der Herkunftsländer bedingt durch globale Medienerreichbarkeit noch immer sehr groß“, so Nieswand.
„Die Muttersprache hat eine höhere Glaubwürdigkeit.“Wladimir Kaminer
„Wir müssen den Kampf um die Herzen aufnehmen.“Cem Özdemir
„Einerseits gibt es unter den Deutsch-Türken eine hohe Zufriedenheit mit dem Leben in Deutschland, andererseits eine hohe Identifikation mit der Türkei“, erklärt er. Daran ist Deutschland nicht unschuldig. „Zu lange hielt man hier am Prinzip ,Ius sanguinis‘ fest: Das ,Recht des Blutes‘ definierte, wer Staatsbürger ist. Anders als in angelsächsischen Staaten, wo ,Ius soli‘ gilt, das ,Recht des Bodens‘, also wo man geboren wurde.“
Prof. Nieswand sieht hier aber Fortschritte, vor allem in Städten: „Wir befinden uns inmitten eines Umstrukturierung sprozesses. Viele Migranten haben zunehmend das Gefühl, sich als Teil der neuen Heimat zu fühlen.“Auch Kaminer ist optimistisch. „Etwa die Hälfte der Deutsch-Russen neigen einem autoritären System zu, die andere Hälfte steht hinter der liberalen Bundesrepublik – Tendenz steigend“, so Kaminer. „Viele DeutschRussen engagieren sich politisch. Und nicht mehr nur in der rechten AfD, zunehmend auch in pro-europäischen Parteien.“Weil sie seit der Flüchtlingskrise nicht mehr das Gefühl haben, am Rand der Gesellschaft zu stehen – sondern in der Mitte angekommen zu sein. Kaminer kritisiert, dass die Bundesregierung die Dimension des PropagandaKrieges, den Moskau (und Ankara) gegen uns führen, nicht erkannt hat. Sein Vorschlag: „Wir brauchen öfKanäle fentlich-rechtliche in russischer und türkiSprascher che, um zweisprachige Mitbürger zu erreichen.“Grünen-Chef Cem Özdemir formuliert das so: „Wir müssen endlich den Kampf um Kopf und Herz der DeutschTürken aufnehmen.“