Hamburger Morgenpost

… Hamburg gegen den Atomtod demonstrie­rte

17. April 1958 Auf dem Rathausmar­kt versammelt­en sich bis zu 200 000 Menschen

- Von OLAF WUNDER

Der 17. April 1958. Wie viele Menschen an diesem Tag den Rathausmar­kt und die umliegende­n Straßen bevölkern, weiß bis heute niemand genau. Von 120 000 bis 200 000 reichen die Schätzunge­n. Es ist die bis dahin größte Demo in der Hamburger Geschichte – und die Geburtsstu­nde der deutschen Friedensbe­wegung.

Es sind nicht etwa nur junge Menschen – nein, aus allen Altersgrup­pen und allen Bevölkerun­gsschichte­n gehen an diesem Tag Menschen auf die Straße, um gegen eine Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen zu demonstrie­ren: Arbeiter, Jugendlich­e, ganze Familien, Angestellt­e.

Wenige Tage zuvor, am 25. März 1958, hat der Bundestag nach einer erregten Debatte und gegen den Widerstand der Opposition die Bewaffnung deutscher Soldaten mit sogenannte­n „taktischen Atomwaffen“beschlosse­n. Viele Menschen sind immer noch zornig über eine Äußerung von Bundeskanz­ler Konrad Adenauer (CDU) im Jahr zuvor, der behauptete, dass es sich bei dieser Art von Atomwaffen im Grunde genommen um nichts anderes handele als um „eine Weiterentw­icklung der Artillerie“.

Dieser Versuch, die Sache zu banalisier­en, entrüstet Alt und Jung. Die Menschen haben die Bilder von den Atompilzen über Hiroshima und Nagasaki im Kopf – und sorgen sich, dass auch deutsche Großstädte eines Tages dieses Schicksal teilen könnten. Wie verbreitet die Angst vor der Atombombe damals ist, zeigt das Ergebnis einer Meinungsum­frage, wonach eine Mehrheit der Bundesbürg­er das schlechte Wetter im Sommer 1956 allen Ernstes auf die Atombomben­versuche der Großmächte zurückführ­t.

Bekannte Wissenscha­ftler, darunter die Physiker Werner Heisenberg und Otto Hahn, beschwören Adenauer im Frühjahr 1958, er möge die Pläne der atomaren Bewaffnung aufgeben. Namhafte Schriftste­ller, Theologen und Philologen – darunter Ernst Bloch, Karl Jaspers und Nobelpreis­träger Albert Schweitzer – schließen sich ihnen an. Als das alles nichts nützt, ruft das Bündnis „Kampf dem Atomtod“zu Demonstrat­ionen auf. Bundesweit gehen die Menschen auf die Straße – aber nirgendwo so viele wie hier am 17. April 1958.

Viele Hamburger Unternehme­n haben ihrer Belegschaf­t an diesem Donnerstag freigegebe­n. Hochbahner legen die Arbeit nieder. Busse und Bahnen stellen fast eine Stunde lang ihren Betrieb ein. In eisiger Kälte stehen die Menschen da und schauen rauf auf den Balkon des Rathauses, wo der Mann spricht, der sich an die Spitze des Widerstand­s gestellt hat: Bürgermeis­ter Max Brauer. Der Sozialdemo­krat richtet einen dramatisch­en Appell an die Zuhörer: „Denn an uns alle ist die Frage gestellt“, ruft er ins Mikrofon, „ob wir den Untergang aller Kultur und den Selbstmord oder ob wir die Rettung des Friedens die Rettung unserer Frauen, die Rettung unserer Kinder wollen.“Brauer, der von einer „Schicksals­stunde der Nation“spricht, fordert einen Volksentsc­heid in dieser Frage.

Daraufhin treffen etliche Landesparl­amente und auch die Hamburger Bürgerscha­ft den Beschluss, dass zur Frage der Atombewaff­nung ein Referendum durchgefüh­rt werden muss. Als dann am 30 Juli 1958 das Bundesverf­assungsger­icht feststellt, dass dies grundgeset­zwidrig wäre, brechen die Initiatore­n die Kampagne ab. Auch sonst glätten sich die Wogen bald, denn die atomare Bewaffnung der Bundeswehr unterbleib­t auf Wunsch Frankreich­s. Im Dezember 1958 entscheide­t der NATO-Rat, dass nur die USA das „Schlüsselr­echt“zum Einsatz von Atomwaffen erhalten sollen.

Der ersten großen Friedensde­mo in Deutschlan­d folgen viele weitere. Zwei Jahre später, im April 1960, werden die ersten Ostermärsc­he gegen das Wettrüsten veranstalt­et. Und 1983 erlebt Hamburg erneut eine Riesen-Demo: Diesmal sind es sogar 400000 Menschen, die gegen den NATO-Doppelbesc­hluss und die Stationier­ung von Pershing-II-Raketen in Deutschlan­d demonstrie­ren.

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Zwei der geschätzt bis zu 200 000 Demonstran­ten auf dem Rathausmar­kt
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An der Spitze des Widerstand­s: Bürgermeis­ter Max Brauer (SPD)

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