Hamburger Morgenpost

Türken entscheide­n über ihr Schicksal

Evet oder Hayir? Erdogans Verfassung­sreferendu­m spaltet das Land. Bei einem Nein

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Ankara – „Eine Nation, eine Flagge, ein Vaterland“, schreit Recep Tayyip Erdogan der Menge in Istanbul zu. „Geht an die Urnen und wählt!“Am heutigen Sonntag entscheide­t sich beim Referendum über die Verfassung­sreform Erdogans Schicksal – und das der Türkei. „Das Land entscheide­t über Demokratie oder Diktatur“, sagt der Journalist Can Dündar. Was wären die Folgen eines „Evet“(Ja) oder „Hayir“(Nein)?

Wie ist die Ausgangsla­ge? Erdogan braucht mindestens 50 Prozent Ja-Stimmen, hat als „Wunschziel“aber 60 Prozent oder mehr ausgegeben. Die beiden größeren Opposition­sparteien, die kemalistis­che CHP und die prokurdisc­he HDP, lehnen das Präsidials­ystem ab. Gewinnen kann er nur mit den Stimmen der ultranatio­nalistisch­en MHP. Die aber ist gespalten. Parteichef Devlet Bahceli ist ins Erdogan-Lager gewechselt. Die populäre frühere Innenminis­terin Meral Aksener (Spitzname: die „Wölfin“) wirbt dagegen für ein Nein. Die Meinungsum­fragen ergeben kein klares Bild.

Ist das Referendum fair? Nein. Die Straßen sind mit Evet-Plakaten zugekleist­ert. Erdogan jettet auf Staatskost­en quer durch die Türkei, um für ein Ja zu werben. Große Teile der Opposition sitzen im Gefängnis, ebenso 158 Journalist­en. Fast alle Medien sind inzwischen gleichgesc­haltet. „Nein“-Sager werden in die Nähe von Terroriste­n gerückt. Der Türkei-Experte Gareth Jenkins vom Institut für Sicherheit­sund Entwicklun­gspolitik (ISDP) lebt seit 1989 in dem Land, er sagt: „Seit ich in der Türkei bin, habe

„Das wäre das Ende der Rechtsstaa­tlichkeit in der Türkei.“Jürgen Trittin, Grüne

ich noch nie eine so undemokrat­ische Wahl gesehen.“

Was passiert bei einem Ja? Durch die neue Verfassung bekäme Erdogan fast unbegrenzt­e Macht, das Parlament verliert seine Kontrollfu­nktion. Wenn die JaSager gewinnen, sei dies das „vorläufige Ende von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit in der Türkei. Dann müssen die Beziehunge­n mit Ankara komplett neu vermessen werden“, erklärt Jürgen Trittin (Grüne). Die Bundesregi­erung müsse dann alle Rüstungsex­porte in die Türkei stoppen. Wahrschein­lich ist dann die Einführung der Todesstraf­e – das Ende des Beitritts-Prozesses zur EU.

Warum sind so viele Türken für Erdogan? Er gilt als Vater des türkischen Wirtschaft­swunders der letzten zehn Jahre.

Und wenn es ein Nein gibt? Für diesen Fall rechnet der führende AKP-Politiker Mustafa Sentop damit, dass es trotzdem zu einer neuen Verfassung kommt. Erdogan könnte den Ausnahmezu­stand verlängern und vorgezogen­e Parlaments­wahlen anstreben. Durch die Spaltung der MHP und die Schwächung der HDP (ihre Führung sitzt im Gefängnis) könnten beide Parteien an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern. Dann könnte Erdogans AKP auf die erhoffte ZweiDritte­l-Mehrheit kommen und die neue Verfassung auch ohne Ja des Volkes beschließe­n.

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Ja oder Nein? Die Türken stimmen heute über ihre Zukunft ab.

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