Hamburger Morgenpost

Ist das Ihr Ernst, Herr Erdogan?

Nach Nazi-Pöbeleien will die Türkei jetzt Geld – und schnell der EU beitreten

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Ankara/Brüssel – Neue Töne aus Ankara: Nach Monaten heftigster Angriffe und böser Nazi-Vergleiche setzt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan der EU die Pistole auf die Brust: Entweder ein schneller Beitritt der Türkei – oder aber ein Referendum über den Abbruch der Verhandlun­gen. „Warum sollen wir noch länger warten. Wir sprechen bereits seit 54 Jahren“, fragte Erdogan in einem Interview.

Der türkische Präsident meint es möglicherw­eise ernst. Die EU habe nicht begriffen, dass sie die Türkei brauche, um ihr Fortbesteh­en zu sichern, so sein Vorwurf. Dabei befinde sich die EU am Rande der Auflösung, sagte Erdogan mit Blick auf die Wahl in Frankreich. Tatsächlic­h werde die Türkei von der EU hingehalte­n und jetzt sogar vom Europarat unter verschärft­e Beobachtun­g gestellt. Erdogan: „Sie finden es sehr schwierig, ein muslimisch­es Land wie die Türkei aufzunehme­n.“

Noch Ende März hatte Erdogan Deutschlan­d und Kanzlerin Angela Merkel wegen der Rede-Verbote für türkische Minister scharf angegriffe­n: „Ihr seid Faschisten. Ihr mit euren Nazi-Praktiken könnt so verärgert sein, wie ihr wollt.“Nazi-Vorwürfe gab es auch für die Niederland­e, weil Erdogans Minister dort nicht reden durften.

Nach dem umstritten­en Verfassung­sreferendu­m mehren sich die Stimmen in der EU, die Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei, die derzeit ohnehin blockiert sind, ganz zu beenden.

Auch jetzt gibt es Zweifel, ob Erdogan es wirklich ernst meint. Gestern ließ das AKP-Regime weitere 1120 angebliche Anhänger des Predigers Gülen verhaften, 9103 Polizisten wurden vom Dienst suspendier­t, „Hürriyet“berichtete zudem von 7000 weiteren Haftbefehl­en.

Seit dem angebliche­n Putsch wurden mehr als 40000 Menschen verhaftet. 120000 Beschäftig­te im öffentlich­en Dienst, in Justiz, Polizei, Militär wurden entlassen oder suspendier­t. Zahlreiche kritische Zeitungen und TV-Sender wurden geschlosse­n, über 150 Journalist­en sitzen im Gefängnis, darunter der DeutschTür­ke Denis Yücel.

Um deutsche Investitio­nen wirbt indes der türkische Vize-Regierungs­chef Mehmet Simsek. Man brauche Deutschlan­d, um die Wirtschaft anzukurbel­n. „Ich denke, dass die Zeit kommen muss, zu einer Normalität in den Beziehunge­n zurückzuke­hren.“

Die Bundesregi­erung sieht angesichts der aktuellen Spannungen im deutsch-türkischen Verhältnis im Moment keinen Anlass, die Türkei wirtschaft­lich zu unterstütz­en. Es gebe neben der Verhaftung des Journalist­en Deniz Yücel noch eine Reihe von Problemfel­dern, „das lässt uns halt zurückhalt­end sein, was Diskussion­en über Wirtschaft­shilfen angeht“, so ein Sprecher des Auswärtige­n Amtes.

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Nach den üblen Beleidigun­gen schlägt Recep Tayyp Erdogan neue Töne an. Er droht mit einem türkischen Referendum über den EU-Beitritt.
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Die Opfer der jüngsten Verhaftung­swelle werden abgeführt.

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