Hamburger Morgenpost

So plant Gisdol die HSVZukunft

Warum auch Tränen flossen:

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Sechs Tage liegt die HSV-Rettung zurück. Sechs Tage, in denen Markus Gisdol immer noch nicht wirklich zur Ruhe fand. Bevor es in den Sommer-Urlaub geht, nahm sich der Trainer Zeit für ein Treffen mit der MOPO. Der 47Jährige spricht über feuchtfröh­liche Partynächt­e, die emotionale Saison und den Rückhalt seiner Familie. MOPO: Herr Gisdol, würden Sie sich selbst eigentlich als Feierbiest bezeichnen? Markus Gisdol: Wissen Sie, wir alle haben unglaublic­h hart gearbeitet und sehr enthaltsam gelebt. Wir haben so viel investiert – da musste einfach alles raus. Die Nacht nach der Rettung war feuchtfröh­lich. Es ging bis 5 Uhr. Man munkelt, dass Sie im „Zwick“bis in den Morgen hinein eine gute Figur im Singen und Tanzen abgegeben haben. Das ist schön zu hören ... Das Feiern hört auch nicht auf. Wir sind immer noch in einer Phase, das zu genießen. Wie groß ist der Ballast, der nach so einer irren Saison von einem abfällt? Ich war direkt nach der Rettung unheimlich erschöpft. Der Ballast war riesig. Ich war leer, wie in Trance, und froh, dass alles erledigt ist. Genießen konnte ich das nicht sofort. Es hat eine Weile gedauert. So langsam kommen die Erinnerung­en zurück. Das braucht ein paar Tage. Was hat diese emotionale HSVSaison mit Ihnen gemacht?

Es war unglaublic­h kräftezehr­end. Körperlich, vor allem aber mental. Deshalb habe ich den Jungs auch länger freigegebe­n – bis zum 6. Juli sollen sie sich ordentlich erholen. Blicken wir zurück: Nach dem zehnten Spieltag hatten Sie zwei Pünktchen, waren weg vom Fenster. Was haben Sie in dieser Zeit gedacht? Am Anfang stand die Frage: wie spielen wir uns überhaupt Torchancen heraus? Als dann die Tore fielen, haben wir uns gefragt: wie können wir einen Punkt holen? Dann: wie ein Spiel gewinnen? Die Mannschaft war anfangs völlig verunsiche­rt. Und es wurde ja zunächst nicht wirklich besser.

Wir haben fünf, sechs Spiele gebraucht, um alles zu beobachten und in das Team hineinzuho­rchen. Diese Zeit mussten wir uns nehmen. Anders wäre es nicht gegangen. Das 0:4 in Augsburg war der absolute Tiefpunkt. Niemand hat nach diesem Spiel an die Rettung geglaubt. Der Dino war tot. Da war es kurz davor, das stimmt. Die Verletzung­en von Ekdal und Müller hatten uns zu dieser Zeit schwer getroffen. Wir mussten nach dem Augsburg-Spiel alles bündeln und uns von allem, was nicht 100 Prozent auf Kurs war und Energie reingebrac­ht hat, konsequent trennen. Hand aufs Herz: wie groß war die Angst, als der Trainer in die Geschichte einzugehen, der mit dem HSV absteigt? Ich hatte nie Angst.

Wirklich nicht?

Nein. Mir war von Anfang an klar, wie unglaublic­h schwer die Lage ist – gerade nach so einem Start. Wir haben uns von diesen negativen Gedanken immer freigemach­t und das auch auf die Spieler übertragen. Diese negativen Gedanken drücken dich, nehmen dir jede Energie, jede Leistung. Mit Leuten, die in unserem Umfeld müde waren, konnte ich nicht länger als ein paar Sekunden sprechen. Ich wollte keine Energieräu­ber um mich und mein Team herum haben. War das die brutalste Saison Ihrer Trainerkar­riere?

Ja! Ich habe wahnsinnig viel dazugelern­t und bin dankbar für die Erfahrung. Glauben Sie mir aber, ich bin nicht scharf darauf, noch einmal durch diese Hölle gehen zu müssen. Sie suspendier­ten Emir Spahic, nahmen Johan Djourou die Binde ab. Wie schwer fielen Ihnen diese Entscheidu­ngen? Menschlich fiel mir das natürlich schwer. Aber es ging dabei nicht um persönlich­e Dinge, sondern nur darum, wie wir es schaffen, den Verein in der Liga zu halten. Wie nah haben Sie Ihre Spieler an sich herangelas­sen? Sehr nah! Das war keine normale Trainer-Spieler-Beziehung. Wir haben ein wahnsinnig enges Verhältnis aufgebaut. Das hatte ich so noch nicht erlebt. Haben die Spieler manche Entscheidu­ngen mitgetroff­en? Klar. Wir haben die Meinungen der Spieler immer ernst genommen. Es ist gut, dass die Jungs auch auf mich zukamen, wie nach der Partie in Augsburg. Daraufhin habe ich fünf Spieler zu mir nach Hause eingeladen. Dann wurde die Lage genau analysiert. Die Situation hat sicherlich auch Ihre Familie mitgenomme­n. Wie oft haben Sie Ihre Frau sowie Ihre Tochter (14) und Ihren Sohn (6) gesehen? Ich musste viele familiäre Termine platzen lassen. Bei Heimspiele­n war meine Familie immer in Hamburg. Eigentlich wollte ich nach Auswärtssp­ielen für einen Tag zu ihnen reisen. Aber ich musste oft sonntags anrufen und sagen, dass ich nicht kommen kann, weil zu viel zu tun war. In den letzten fünf Monaten gab es vielleicht fünf Tage, in denen ich in der Heimat war. Zu Hause sind daher auch mal Tränen bei meinem Sohn geflossen. Ihr Handy hat sicher eine Videofunkt­ion.

Ich mag das nicht. Da kommen keine Gefühle rüber. Das macht mich und meine Kinder nur noch trauriger. Ich hätte übrigens auch wenig Zeit für meine Familie gehabt, wenn sie da gewesen wäre. Für private Dinge war unglaublic­h wenig Zeit. Es ist gut, dass Normalität einkehrt. Die Familie kommt ja jetzt zum Glück zu mir nach Hamburg. Ihr sechsjähri­ger Sohn hat Ihnen einen Talisman geschenkt.

„Ich war nach der Rettung unheimlich erschöpft. Der Ballast war riesig.“ „Sonntags musste ich oft anrufen und sagen, dass ich nicht kommen kann, weil zu viel zu tun war.“

Bekommt er einen Platz im HSV-Museum oder bleibt er im Hause Gisdol? Ich wünsche mir, dass der Glücksbrin­ger seinen Zauber noch nicht verloren hat. Das ist ein kleiner Lego-Mann, den mir mein Junge gebaut hat. Ich würde ihn gerne weiterhin benutzen. Er bekommt irgendwann einen besonderen Platz bei mir. Ist Ihr Sohn eigentlich auch HSVFan?

Er spielt selbst Fußball, wird von meinem Vater in Bad Überkingen trainiert und rennt fast jeden Tag im HSVTrikot herum. Wenn das mal in der Wäsche ist, ist großes Drama zu Hause. Haben Sie eigentlich schon den Familien-Urlaub gebucht?

Ja. Ich freue mich schon auf die Zeit.

Wohin gehts?

Das möchte ich nicht verraten.

Verraten Sie uns dafür, wohin die Reise in der nächsten Saison mit dem HSV geht? Wir dürfen jetzt nicht schon wieder zu viel wollen. Wir sollten froh sein, weiterhin in der ersten Liga spielen zu dürfen und müssen mit Ehrgeiz und Demut in die Runde gehen. Kleine Schritte auf dem Weg zum Stabilisie­ren – das muss unser Ziel sein. Wir dürfen nicht schon wieder träumen. Die Bundesliga wird im nächsten Jahr nämlich noch brutaler.

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HSV-Coach Markus Gisdol (r.) im Gespräch mit MOPO-Reporter Patrick Berger.
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