Hamburger Morgenpost

„Rudi, die Sache ist gelaufen!“

Er war als Kanzleramt­schef und später als Innenminis­ter einer der engsten Vertrauten von Helmut Kohl. Rudolf Seiters (79), heute Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, erinnert sich in der MOPO an eine Sternstund­e des Altkanzler­s – und Helmut Kohl als Men

- Von RUDOLF SEITERS

Ich werde diesen Tag nie vergessen. Es war der 19. Dezember 1989, also nur gut fünf Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer. Bis zu diesem Zeitpunkt war an eine rasche Wiedervere­inigung noch gar nicht zu denken. Mit einer Bonner Delegation flogen der Bundeskanz­ler und ich nach Dresden, wo uns auf dem Flughafen Tausende Menschen und ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen erwarteten. Es war der Augenblick, als Helmut Kohl sich auf der Gangway zu mir umdrehte und sagte: „Rudi Seiters, die Sache ist gelaufen.“

Die Rede später vor der Ruine der Dresdner Frauenkirc­he, die nicht im Reiseplan stand und spontan organisier­t wurde, gehört vielleicht zu den wichtigste­n Reden, die Helmut Kohl jemals gehalten hat. Denn sie hat die Menschen nicht aufgeputsc­ht, sondern sie war sehr sensibel, sehr menschlich und mit einer an die ganze Welt gerichtete­n Botschaft. Nur sehr wenige Stichworte, von einem Filzstift geschriebe­n, standen auf einem kleinen Zettel. Der Bundeskanz­ler sprach von dem gemeinsame­n Weg in die deutsche Zukunft mit Frieden, Freiheit und Selbstbest­immung und einem „Haus Deutschlan­d“, das unter einem europäisch­en Dach gebaut werden müsse.

Dieser Tag in Dresden war zweifellos das emotionals­te Erlebnis, das mich persönlich mit Helmut Kohl verbindet. Noch nicht am 30. September (Prager Balkon mit der Ausreise Tausender DDR-Bürger), noch nicht am 9. November mit dem Fall der Mauer, wohl aber in Dresden, wo die Führung der DDR ihren Staatsgast, den Kanzler der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, mit der eigenen Bevölkerun­g allein ließ und sich verdrückte, waren wir überzeugt, es mache überhaupt keinen Sinn, weitere Vereinbaru­ngen mit DDR-Ministerpr­äsident Hans Modrow zu treffen – mit einer Ausnahme, möglichst schnell die freien Wahlen durchzuset­zen, die dann auch am 18. März 1990 stattfande­n.

In den meisten Nachrufen wird Helmut Kohl völlig zu Recht als „Kanzler der Einheit“gewürdigt. Natürlich wäre die Einheit Deutschlan­ds nicht zustande gekommen – jedenfalls nicht zum damaligen Zeitpunkt und nicht zu den damaligen Bedingunge­n – ohne die Reformbewe­gungen in Ungarn und Polen, ohne Michail Gorbatscho­w und George H. W. Bush, ohne den polnischen Papst, ohne die Massendemo­nstratione­n und Massenfluc­hten in der DDR. Aber es lag am Bundeskanz­ler, der das Gespür für den richtigen Zeitpunkt hatte und konsequent auf die schnelle Einheit Deutschlan­ds zusteuerte und dies

behutsam und mit Augenmaß. Der Schlüssel zum Erfolg lag darin, dass es Helmut Kohl schaffte, in den dramatisch­en Monaten der Jahre 1989/90 ein ganz persönlich­es Vertrauens­verhältnis aufzubauen zu den Staatsmänn­ern der Welt, zu Bush, zu Gorbatscho­w, zu Mitterrand.

In der heutigen Welt – schauen wir nur in die USA oder nach Russland – wäre ein solches Vertrauens­verhältnis zwischen den politische­n Akteuren gar nicht denkbar. Persönlich habe ich in meiner Zeit als Kanzleramt­sminister und als Bundesinne­nminister Helmut Kohl stets als sehr menschlich empfunden.

Seine Regierungs­arbeit, seine Machtinstr­umente, sein Informatio­ns- und Entscheidu­ngsmanagem­ent sind ja oftmals mit dem Begriff „System Kohl“gekennzeic­hnet worden.

Das war vielfach abfällig gemeint, aber negativ habe ich selbst das nie gesehen. Helmut Kohl umgab sich mit Vertrauten, weil für ihn Loyalität eine große Rolle spielte, weil er sich über hierarchis­che Strukturen im Haus besonderen Zugang verschafft­e zu einer Vielfalt von Informatio­nen, über Strömungen in der eigenen Partei, in der Koalition, in der Regierung, über Gefahrenpo­tenziale und anderes. Dies alles habe

ich überwiegen­d als äußerst effektiv erlebt.

Das galt besonders für die Jahre des Umbruchs in Europa, wo von Sommer 1989 an eine Fülle von fast täglichen Entscheidu­ngen getroffen werden musste, um den Prozess der deutschen Wiedervere­inigung zu steuern. Alle, die am „System Kohl“beteiligt waren, hatten einen Kompass und hatten ein Koordinate­nsystem, an dem sich aktuelle und tägliche Entscheidu­ngen ausrichtet­en.

Oft wird auch behauptet, Helmut Kohl habe in seinem Umfeld keinen Widerspruc­h zugelassen. Ich dagegen habe Helmut Kohl erlebt als einen Bundeskanz­ler, der von seinen Mitarbeite­rn Kompetenz verlangte und Loyalität. Der im Vorfeld von Entscheidu­ngen Diskussion­en sehr wohl herausford­erte, auch Widersprüc­he und Einwände duldete, wenn sie gut begründet waren. Waren sie oberflächl­ich, reagierte er dagegen harsch. Seinen Vertrauten ließ er einen breiten persönlich­en Freiraum in der Gestaltung der Arbeit, weil er wusste, dass diese in seinem Sinne handelten.

Mit Kohl ist deshalb nicht nur der Kanzler der deutschen Einheit und ein großer Europäer von uns gegangen, sondern auch ein Mensch, mit dem mich persönlich viel verbunden hat und mit dem ich sehr gerne und sehr vertrauens­voll zusammenge­arbeitet habe.

„Helmut Kohl ließ seinen Vertrauten breiten Freiraum.“Rudolf Seiters

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Zehntausen­de Dresdner feierten den Kanzler am 19. Dezember 1989.
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Kohl zeichnet seinen Intimus Seiters mit dem Großen Verdienstk­reuz aus.

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