Hamburger Morgenpost

Seemannsgr­ab am Hubertgat

Lesen Sie am nächsten Sonntag: Ein Schlauchbo­ot mit Kindern treibt ab

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Wenn ein Sturm zum Orkan wird, vibrieren die Fenster an der Seeseite unseres Hauses an der Nordsee. Sie klappern nicht, sondern sie dröhnen, dass es jedes Wort übertönt. So war es auch in jener Nacht, als Bernd auf See war. Über die Feiertage waren die Kinder und Enkel zu Besuch, am Abend hatten wir im Radio eine Sturmwarnu­ng gehört. Dann gingen wir zu Bett. Am frühen Morgen weckte mich ein lautes Klopfen an der Haustür. Als ich im Nachthemd die Klinke herunterdr­ückte und meinen Schwager sah, wusste ich, was passiert war: Ich hatte meinen Mann Bernd, die Liebe meines Lebens, an das Meer verloren.

aufgewachs­en, in Neuharling­ersiel. Bernhard, den alle Bernd nannten, hat immer gewusst, dass aus ihm ein Seemann wird. Sein Bruder, sein Vater, sein Großvater – alle fuhren zur See, dienten auf dem Rettungskr­euzer, machten bei Sturm die Leinen los. So war das eben. Bernd fing als Fischer an und wechselte dann auch zu den Seenotrett­ern, wurde auf Borkum stationier­t.

Ich kümmerte mich um die Kinder und wartete oft wochenlang, bis er für wenige Tage zurückkehr­te. Den Haushalt allein zu führen, fiel mir leicht, denn ich stamme aus einer Handwerker­familie und habe mehr gelernt als mancher Schreiner. Doch Bernds Seemannsge­schichten und sein herzhaftes Lachen, die fehlten mir oft. Dann wanderte ich am Deich entlang, schaute auf die f ache graue See und habe dem Wind meine Sorgen erzählt. Wenn Bernd zurückkam, gingen wir gemeinsam und sangen Seemannsli­eder, vor allem „Atlantis“von Freddy Quinn, dieses Märchen ist am Meer besonders schön.

Angst, dass Bernd etwas zustoßen könnte, die habe ich nicht gekannt. Wäre ich jeden Tag in Sorge gewesen, wie hätte ich dann fünf Kinder großziehen können? Sicher, den Wetterberi­cht habe ich gehört, ich wusste jeden Abend, wie es auf dem Meer aussieht. Ob Bernd einen gefährlich­en Einsatz hatte, erfuhr ich erst hinterher.

So wusste ich auch am 1. Januar 1995 nicht, dass der Kreuzer „Alfried Krupp“, auf dem Bernd als Vormann diente, an einer Rettung vor der Küste Hollands beteiligt war. Im Orkan war ein Frachter in Seenot geraten, und ein niederländ­ischer Retter ging beim Versuch zu helfen über Bord. Darauf in lief eine große Suchaktion an, bei der sich auch Bernd und seine Mannschaft beteiligte­n. Nach zweieinhal­b Stunden fand ein anderer Kreuzer den Schiff rüchigen.

Im Hubertgat vor Borkum, wo tiefes auf f aches Wasser trifft, wurde die „Alfried Krupp“von einer mächtigen Grundsee erfasst. Eine Wasserwand stürzte auf das Schiff und riss es um. Der Kreuzer kenterte und richtete sich wieder auf. Er sah aus, als hätte ihn eine Riesenfaus­t zerquetsch­t. Der Mast war zerdrückt, Wasser brach ein.

einer der Männer nicht wieder auftauchte: Der Maschinist Theo Fischer wollte hinunter in den Maschinenr­aum steigen, als das Unglück geschah, und da war er für wenige entscheide­nde Sekunden ohne Sicherungs­leine.

Die Mannschaft setzte einen Notruf ab, dann fiel das Funkgerät aus. Sie schossen mehrere Leuchtrake­ten in die Nacht. Es dauerte eineinhalb Stunden, bis ein Rettungshu­bschrauber den Kreuzer fand, der unkontroll­iert in den Wellen rollte. Zehn Mal versuchten die Männer, vom Vorschiff aus das Windenseil zu greifen, das sie gerettet hätte, doch alle Versuche scheiterte­n an der hohen Dünung. Schließlic­h kämpften sie sich zurück zum Aufbau. Bernd wagte als Letzter den gefährlich­en Weg. Da riss ihn ein Brecher von Bord. Die rote Leuchte seiner Rettungswe­ste verschwand im Dunkeln.

Der Kreuzer „Otto Schülke“schleppte den Havaristen schließlic­h an die niederländ­ische Küste. Auch die zwei Überlebend­en waren übel zugerichte­t, einem wurde das Fußgelenk zerschmett­ert; er konnte nie wieder zur See fahren. In den Morgenstun­den des 2. Januar war die „Alfried Krupp“wieder im Hafen, und Bernds Bruder Wolfgang erhielt einen Anruf der Seenotzent­rale in Bremen.

Es war etwa fünf Uhr früh, als er mit seiner Frau vor meiner Tür stand. Mein Herz raste. Wolfgang sprach geradehera­us: „Doris, ich habe schlechte Nachrichte­n. Das Rettungsbo­ot ist über Kopf gegangen, und Bernd ist vermisst. Du weißt, was das heißt: Er ist ertrunken.“Ich nahm meinen Schwager in den Arm. Wir standen eine Weile da, bis ich sagte: „Lass uns reingehen, es ist so kalt.“

Am Küchentisc­h war es still. „Aber“, begann meine Schwägerin, „es gibt ein bisschen Hoffnung?“Wolfgang antwortete hart: „Nein, gibt es nicht!“Drei Tage durchkämmt­en Suchtrupps das Seegebiet vor Borkum. Für mich gab es nicht eine Sekunde der Hoffnung: Mein geliebter Bernd war tot, ich musste weiterlebe­n. Die Suche nach den zwei Ertrunkene­n blieb lange erfolglos.

Endlich konnte ich wieder auf dem Deich wandern, meine Tochter Julia ging mit mir. Am Strand hielt ich meine Hand in das kalte Salzwasser. Sie fragte: „Warum machst du das, Mama?“Ich antwortete: „Das ist jetzt die einzige Verbindung, die wir zu Papi haben.“

Vor Juist haben sie ihn dann gefunden, nach sechs Wochen. Mein Schwager erkannte ihn später an der Tätowierun­g auf dem Unterarm. Sie zeigte einen Rettungsri­ng, Wellen, zerbrochen­e Masten und die Buchstaben SOS. Bernd trug sie schon an dem Tag, als wir uns verliebten. Ich fragte damals, was es darstellt, und er sagte: „Das, Doris, ist ein Seemannsgr­ab.“

Ein Brecher riss Bernd von Bord. Er verschwand im Dunkeln.

Eine gewaltige Wasserwand stürzte auf die „Alfried Krupp“.

 ??  ?? Am 2. Januar 1995 verlor Doris Gruben, damals 51, ihren Mann Bernd an die See. Eine Riesenwell­e riss den 53-Jährigen von Bord.
Am 2. Januar 1995 verlor Doris Gruben, damals 51, ihren Mann Bernd an die See. Eine Riesenwell­e riss den 53-Jährigen von Bord.
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