Regelmäßig kranke Kinder abweisen. Schon morgens gibt’s lange Schlangen vor seiner Praxis
Von NINA GESSNER
Lange Schlangen vor der Tür. Ein heillos überfülltes Wartezimmer. Eltern, die ihre Kinder selbst kurieren, statt zum Arzt zu gehen. In Horn ist ein Notstand ausgebrochen. Weil es nur noch eine einzige Kinderarztpraxis gibt, ist die Versorgung der Kleinsten dort nicht mehr gewährleistet.
Wenn Dr. med. Karl Robert Schirmer montags früh um acht Uhr seine Türen aufschließt, ist die Schlange kleiner Patienten so lang, dass sie bis auf die Straße reicht. Drinnen geht die Warterei weiter: Nicht selten dauert es bis zu drei Stunden, bis die Eltern mit ihren Kindern zur Behandlung aufgerufen werden.
„Wir sind am Limit“, sagt Schirmer, der zusammen mit einem Kollegen die letzte Kinderarztpraxis Horns betreibt. Als er vor 20 Jahren an der Manshardtstraße angefangen habe, habe es noch zwei weitere Praxen in Horn gegeben. Doch die haben ihren Sitz in den Westen der Stadt verlegt. Dahin, wo mehr Privatpatienten leben. Und wo man entsprechend mehr Geld verdienen kann. Die Folge: In dem wachsenden Stadtteil, der durch den Zugzug von Familien immer jünger wird, rennen die Menschen Dr. Schirmer die Bude ein.
„Phasenweise können wir keine Patienten mehr aufnehmen“, erzählt Schirmer. Dann werden verzweifelte Eltern Schon lange vor Öffnung der Praxis warten Eltern mit ihren Kindern vor der Tür.
abgewiesen und Schirmer hängt einen Zettel an die Tür: „Wegen Überfüllung geschlossen“. Nur Neugeborene nimmt die Praxis immer auf: „Wir finden, dass man frischgebackene Eltern nicht quer durch die Stadt schicken kann.“Schließlich sind die Mütter als Folge der Geburt selbst noch oft geschwächt.
Die Abgewiesenen bringt das oft in Schwierigkeiten. Vater Peter Israel: „Einmal sollten wir unser Kind wegen einer Magen-Darm-Geschichte aus der Kita abholen.“Weil Schirmers Praxis überfüllt war, versuchte er es im benachbarten Wandsbek, wo die Situation ähnlich ist: Alle Ärzte hatten Aufnahmestopp. „Am Ende mussten wir ins Kinderkrankenhaus Wilhelmstift fahren – wegen so einer harmlosen Sache!“
Mutter Anke Quade überlegt sich inzwischen drei Mal, ob sie zum Arzt geht, wenn ihr Sohn Onno (1) krank ist. „Ich versuche erst mal, ihn selbst zu kurieren“, sagt die 32-Jährige. „Wenn ich drei Stunden in einem Wartezimmer voller Grippe-Patienten sitze, gehen wir hinterher kränker raus, als wir reingegangen sind.“
Die für die Vergabe der Kassensitze zuständige Kassenärztliche Vereinigung sieht dennoch keinen Handlungsbedarf. „Es gibt in Hamburg eine ausgewogene Verteilung der Ärzte und Psychotherapeuten. Hamburg ist hervorragend versorgt“, so ein Sprecher. Die durchschnittlichen Wege zum Arzt seien im Bundesvergleich sensationell kurz.
Dr. Schirmer sieht das anders: „Auf dem Land ist der Arzt sicher oft viel weiter weg, aber da haben die Leute ein Auto. Hier in Horn haben viele keines. Niemand fährt gerne mit einem kranken Kind eine Dreiviertelstunde mit Bus und Bahn.“
Hinzu komme, dass der Stadtteil Horn ein sozialer Brennpunkt sei und seine Aufgabe als Arzt oft weit über das Verschreiben eines Medikamentes hinausgehe. Schirmer kümmert sich um die Förderung der Familien, um die Sprachentwicklung der Kinder, um die richtige Ernährung. „Ich würde mir wünschen, dass man den Stadtteil mehr unterstützt.“
Die Grünen-Fraktion Hamburg-Mitte hat sich des Themas angenommen und eine Veranstaltung zur medizinischen Versorgung in Horn initiiert. „Wir hatten vier tote Kinder in Mitte. Das Wichtigste zur Vorbeugung ist das Zusammenspiel der sozialen Agenturen vor Ort“, so der Fraktionsvorsitzende Lothar Knode. Nur wenn Beratungsstellen, Familienhebammen, Jugendamt und Kinderärzte gut kooperieren, könnten Fälle von sexuellem Missbrauch oder Vernachlässigung rechtzeitig erkannt werden. Knode: „Der Zulassungsausschuss könnte eine Sonderzulassung verfügen, damit bei Dr. Schirmer noch ein zusätzlicher Arzt in die Praxis reinkommt.“
„Wir sind am Limit, können oft keine Patienten aufnehmen.“Karl Robert Schirmer, Arzt