So schlecht steht die Türkei heute da
Spaltung, Isolation, Verfall: Wie Erdogan sein Land radikal verändert hat
Ankara – Für Recep Tayyip Erdogan war der gescheiterte Putschversuch in der Türkei heute vor einem Jahr ein „Gottesgeschenk“. Für große Teile des Landes und der Menschen war er der Auftakt für einen beispiellosen Verfall. Eine Bilanz.
„Säuberungen“: Fast 50 000 Menschen sind seit Juli 2016 verhaftet worden (102000 Festgenommene). Fast 140 000 Beamte wurden suspendiert – weil sie vermeintlich der Gülen-Bewegung nahestehen, die Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Etwa 2100 Universitäten, Schulen und Studentenwohnheime wurden geschlossen, 149 Medienunternehmen enteignet und 909 Unternehmen unter Zwangsverwaltung gestellt, schreibt der Hamburger Journalist Ramis Kilicarslan. Außerdem sitzen in der Türkei etwa 250 Journalisten in Haft, darunter der „Welt“Reporter Deniz Yücel. Etwa 100 Journalisten werden von den Behörden gesucht.
Internationale Isolation: Die Türkei steht international im Abseits. Mit den Europäern hat sich Erdogan u.a. durch Nazi-Beschimpfungen überworfen. Mit den USA gibt es immer wieder Streit, u. a. über die Kurdenpolitik. Im Nahen Osten hat sich der Präsident in der Katar-Krise mit der sunnitischen Führungsmacht Saudi-Arabien angelegt.
Wirtschaftlicher Verfall: Die Tourismusindustrie steckt in der Krise. Alleine bei den Frühbuchern aus Deutschland gab es einen Rückgang um 58 Prozent. Die allgemeine Wirtschaftslage war in den vergangenen Monaten aber besser als erwartet. Allerdings hat sich der Staat dafür massiv verschuldet und Kredite verteilt. Die Arbeitslosenquote liegt mit elf Prozent trotzdem auf Rekord-Niveau, Investitionen aus dem Ausland sind um die Hälfte zurückgegangen.
Innere Spaltung: Wie sich im jüngsten Referendum gezeigt hat, sind die Türken tief gespalten über Erdogans Kurs. Trotz massiver Gängelei stimmten 49 Prozent gegen Erdogan. Die Opposition scheint an Kraft zu gewinnen. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ist mit seinem „Marsch der Gerechtigkeit“von Ankara nach Istanbul ein Achtungserfolg gelungen, der wohl auch Erdogan überrascht hat.
Flucht der Gebildeten: Viele gut ausgebildete Türken, die nicht im Knast sitzen, versuchen, das Land zu verlassen. In Deutschland beantragten im ersten Halbjahr 3000 Türken Asyl. Und alleine das USSolidaritätsnetzwerk „Scholars at Risk“für bedrohte Akademiker registrierte seit dem Putsch 300 Anträge – mehr als in den 15 Jahren zuvor zusammengenommen. CMB