Hamburger Morgenpost

Der „Tempel der Reinlichke­it“an der Steinstraß­e wird nach 108 Jahren abgerissen

- Von OLAF WUNDER

Dem englischen Ingenieur William Lindley hat Hamburg viel zu verdanken: die Kanalisati­on, die Eisenbahn, ein Wasserwerk. Auch die erste „Wasch- und Badeanstal­t“des Kontinents ist seine Idee gewesen. Als sie nach 108 Jahren am 20. Januar 1963 abgerissen wird, trauern viele Hamburger um ein Gebäude, das mittlerwei­le ein Wahrzeiche­n der Stadt geworden ist. Vom Nachfolgeb­au kann man dergleiche­n kaum behaupten: Es ist das Saturn-Parkhaus an der Steinstraß­e.

Es ist der 5. April 1855, als die Wasch- und Badeanstal­t am Schweinema­rkt ihren Betrieb aufnimmt. Damals verfügt kaum eine Wohnung über Waschgeleg­enheiten geschweige denn eine Badewanne. Deshalb ist die neue Einrichtun­g gerade für Arbeiterfa­milien ein wahrer Segen.

„Eine unreinlich­e Bevölkerun­g verwildert und liefert umso mehr Vergehen gegen die Staatsgese­tze“– davon zumindest sind die Stadtväter überzeugt. Und noch etwas anderes haben die Politiker jener Zeit erkannt: „Mangel an Reinlichke­it macht die Bevölkerun­g empfänglic­her für verheerend­e Seuchen wie Cholera, Blatter, Fieber.“

Nebenbei erfüllt die Wasch- und Badeanstal­t noch einen ganz anderen Zweck. Sie ist bewusst an einem der höchsten Punkte der Altstadt platziert. Erst wird das Wasser zum Waschen benutzt, dann fließt es in die Kanalisati­on und spült die Rohre tüchtig durch. Alles ist also gut durchdacht.

Wie ein Tempel sieht die Badeanstal­t aus – ein „Tempel der Reinlichke­it“. „Schon das Entree spricht vorteilhaf­t an“, heißt es in einem Artikel des „Hamburger Correspond­enten“vom 10. April 1855. In der Mitte ragt ein 45 Meter hoher Schornstei­n in die Höhe. Drum herum gibt es ein kreisrunde­s eingeschos­siges Gebäude mit 33 Waschständ­en, an denen Hausfrauen in hölzernen Trögen ihre Wäsche reinigen und anschließe­nd mit handbetrie­benen Schleudern trocknen können. Außerdem sind 55 Kabinen vorhanden, die mit Wannenbäde­rn ausgestatt­et sind. In der ersten Klasse kostet ein warmes Bad vier Schillinge. Hier sind die Wannen aus Steinmörte­l und weiß glasiert. In der zweiten Klasse, wo nur zwei Schillinge fällig werden, ist die Wanne aus Zink. Den Moralvorst­ellungen jener Zeit entspreche­nd sind Männer und Frauen selbstvers­tändlich sorgfältig getrennt. Der Eingang für die Damen befindet sich in der Steinstraß­e, die Herren betreten das Gebäude vom Steintor aus. Im Zweiten Weltkrieg wird die Wasch- und Badeanstal­t zwar schwer beschädigt, aber nach 1945 wieder aufgebaut. Bald ist das alte Gemäuer den Stadtplane­rn ein Dorn im Auge. Der Standort wird für ein Horten-Kaufhaus gebraucht, und so sorgen Bagger dafür, dass das alte Gemäuer dem Erdboden gleichgema­cht wird. Ein Anblick, der vielen Bürgern im Herzen wehtut, denn etliche Generation­en haben sich dort den Staub der Stadt von der Haut geseift.

An den „Tempel der Reinlichke­it“, der von 1855 bis 1963 übrigens 14 Millionen Mal besucht wurde, erinnert heute nur noch ein Mosaik im U-Bahnhof Steinstraß­e.

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Der Tag, an dem … gibt es auch als Buch. Überall im Handel oder auf www.mopo-shop.de Preis: 19,90 € Dieselbe Perspektiv­e: Heute steht dort das Saturn-Parkhaus. Im Hintergrun­d ist die Jacobikirc­he mit ihrem heutigen Turm zu sehen.

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