Hamburger Morgenpost

Der Kult um die Schanze

Im Szene-Viertel brodelt es.

- Von KRISTIAN MEYER

Die Randale-Bilder beim G20Gipfel machten die Schanze weltber hmt – und sorgen f r noch mehr neugierige Besucher. Dabei ziehen unzählige Bars, Restaurant­s und Boutiquen jetzt schon Hamburger wie Touristen magisch an. Partyvolk besetzt jedes Wochenende die Straßen rund ums Schulterbl­att. Bettler und Dealer suchen ihr Glück, die „Rote Flora“steht als wütender Klotz im Zentrum des Zirkus. Doch unter der quirligen Oberf äche brodelt es: Die Bewohner lieben ihren Stadtteil – und kämpfen, um seine Einzigarti­gkeit zu bewahren.

Das Schanzenvi­ertel gute zwei Wochen nach dem G20-Gipfel: Ich habe die Aufgabe, eine Reportage über den Stadtteil zu schreiben. Worauf ich vor allem stoße: harte Ablehnung. „Du bist ja vielleicht ein netter Typ, aber wir haben keinen Bock mehr auf Presse, also verpiss dich jetzt mal wieder.“In verschiede­nen Varianten bekomme ich diesen Satz öfter zu hören. Andere reden länger mit mir, wollen aber nicht zitiert werden. Die Menschen hier haben die Schnauze gestrichen voll, sie wollen ihre Ruhe haben. Kann ich gut verstehen.

Viele Schanzenbe­wohner sind sowieso latent genervt von den „üblichen“Touristens­trömen. Alexander Gerhardt vom Stadtteilb­eirat Sternschan­ze: „Seit den Krawallen gibt es noch mehr Touristen als sonst. Dass jeder ein Foto von der Flora macht, das kennt man ja. Mittlerwei­le stehen aber auch Leute vor dem Schulterbl­att 1 und schießen Fotos.“Die Adresse ist deutschlan­dweit bekannt, seit das SEK dieses Haus bei den Krawallen als erstes stürmte.

Moment mal, Fotos von der Roten Flora? Hamburgs vermeintli­ch spannendst­es SzeneViert­el und die bekannte Bastion linksradik­aler Aktivisten als Kulisse für Urlaubsfot­os? „Das ist eine zwiespälti­ge Situation für die Rote Flora. Sie wollen natürlich kein Touristenm­agnet sein, sind es aber definitiv,“erzählt Gerhardt. Schon seit Langem spielt auch „Hamburg Marketing“mit dem Image der „legendären besetzten Roten Flora“als Nachbar für Szene-Bars und Medienunte­rnehmen.

Aber wie konnte es dazu kommen, dass Stadttoure­n-Anbieter wie „Get Your Guide“in ihren „Walking Tours“durch die Schanze diese unterschie­dlichen Dinge zusammenbr­ingen: „Visit the Rote Flora Theater and Tim Mälzer’s Restaurant ,Bullerei‘!“Autonomes Jugendzent­rum und Edel-Restaurant, Hipster und Drogendeal­er, Adidas-Flagstore und das alteingese­ssene „Café Stenzel“, in dem ältere Herrschaft­en ihr Stück Kuchen mit Sahne genießen – das alles vereint auf engstem Raum?

Fast alle Befragten, die mit mir reden wollen, erzählen die Geschichte der „Gentrifizi­erung“des Viertels. Filipes Familie be-

treibt seit 17 Jahren das portugiesi„Café che Colmeia“am Neuen Pfer„Man markt. merkt, dass kleine LäFamilien­betriebe den und aus dem Viertel verschwind­en und immer mehr Ketten wie Adidas und ,Kauf dich glücklich‘ einziehen. Viele Stammgäste sind weggezogen wegen der hohen Mieten. Die kommen noch manchmal am Wochenende, wohnen aber jetzt in Rothenburg­sort, Harburg oder Altona.“Marc Meyer ist Rechtsanwa­lt bei „Mieter helfen Mietern“. Auch er hat beobachtet, dass über die letzten 20 Jahre immer mehr jüngere Besserverd­iener im Stadtteil leben. „Betroffen mavor chen allem Schicksale, wo Menschen, die lange Zeit hier gehaben, lebt aufgrund von Mieterhöhu­ngen und Eigenbedar­fskündigun­gen den Stadtteil und damit ihre sozialen Bindungen verlasmüss­en.“sen Und auch soziale und kulturelle Projekte wie die Schanzenhö­fe, deren Mietern vor Kurzem gekündigt wurde, verschwind­en mehr und mehr. Dafür weitet sich das gastronomi­sche Angebot immer weiter aus. Auch das nervt viele Anwohner – Partyvolk aus dem Umland, Junggesell­enabschied­e, Ballermann-Atmosphäre!

Falk Hocquél, Inhaber des Cafés „Schmidtche­n“direkt neben der Roten Flora, mag auch keinen Schanzen-Ballermann. Er kann aber manchmal wenig anfangen mit der Sozialroma­ntik, die andere im Viertel haben. Und die über die Zeiten schwärmen, als die Schanze noch kein Szeneviert­el war. „Die Schanze hat durchaus auch eine gute Entwicklun­g gemacht, vom maroden zum angesagten Viertel. Früher gab es hier den ,Fixstern‘!“Die Drogenhilf­e-Einrichtun­g wurde vor über zehn Jahren geschlosse­n – die Junkies sind seitdem kaum mehr präsent im Straßenbil­d, stattdesse­n junge Familien mit Kinderwage­n.

Aber Hocquél sieht natürlich auch, dass die Mieten immer weiter steigen. Der Effekt: Das Viertel „erweitert“sich gewisserma­ßen. Mancher neue Laden siedelt sich im direkten (etwas günstigere­n) Umfeld an – Richtung Eimsbüttel­er Chausee oder Richtung Stresemann­straße.

Hier liegt auch das Polizeikom­missariat 16, die „Lerchenwac­he“. Früher gab es immer mal wieder Übergriffe von Aktivisten, die im Flora-Umfeld vermutet wurden. Aber heute? Der stellvertr­etende PK-Leiter Heiko Grützmache­r sagt: „Aus polizeilic­her Sicht ist das hier ein ganz normales Viertel. Und rechtsfrei­e Räume gibt es hier nicht. Wir haben natürlich ein bunteres Publikum als anderswo, aber die sind alle sehr tolerant miteinande­r und recht harmonisch.“Bei „bestimmten Ereignisse­n“wie dem Schanzenfe­st oder der Walpurgisn­acht – da gibt es eine höhere Einsatzbel­astung, aber die letzten zwei, drei Jahre war es auch da ruhiger. Und die Nachbarsch­aft zur Roten Flora? Man kennt sich, respektier­t sich, hat einen kurzen Draht, wenn es mal Probleme gibt, etwa bei zu lauten Partys. Das Gerede von „Ganz Hamburg hasst die Polizei“kann Grützmache­r für das Schanzenvi­ertel auf jeden Fall nicht bestätigen.

Auch hat man nicht den Eindruck, als wäre die Polizei besonders scharf darauf, die Rote Flora zu räumen. Das wird im Getöse vor der Bundestags­wahl ja vielerorts gefordert. Im Viertel selbst herrscht eine andere Stimmung: Für manche mehr, für andere weniger, aber trotzdem sind sich alle einig – die Flora gehört zum Viertel dazu. Einige Gewerbetre­ibende haben kürzlich um Solidaritä­t mit der Flora geworben. In einem offenen Brief wurde sogar angedeutet, dass Flora-Aktivisten Einzelhänd­ler vor vermummten Plünderern geschützt hätten. Andere mögen daran zwar nicht so recht glauben, eine Räumung wünscht trotzdem kaum einer.

Was für Folgen hätte eine solche Räumung eigentlich für das Schanzenvi­ertel? Prof. Sebastian Zenker von der „Copenhagen Business School“beleuchtet das Thema für mich aus wirtschaft­licher Perspektiv­e: „Dann könnte die Gefahr bestehen, dass die Schanze langfristi­g zu einem zweiten Winterhude wird.“Und für die Stadt? Der Ruf Hamburgs hat stark unter dem G20-Gipfel und den Randale-Bildern gelitten. Eine Räumung und die möglichen Folgen hält der Professor für fatal. „Das Beste für die Marke Hamburg wäre, wenn jetzt erst mal Gras über die Sache wächst.“Die Schanzenbe­wohner dürften das vermutlich genau so sehen!

 ??  ?? So sieht es normalerwe­ise in der Schanze aus: Buntes Partyvolk auf der „Piazza“am Schulterbl­att an einem Sommeraben­d. Aber: Nicht alle Anwohner freuen sich über diese Entwicklun­g. Und über die immer weiter steigenden Mieten auch nicht.
So sieht es normalerwe­ise in der Schanze aus: Buntes Partyvolk auf der „Piazza“am Schulterbl­att an einem Sommeraben­d. Aber: Nicht alle Anwohner freuen sich über diese Entwicklun­g. Und über die immer weiter steigenden Mieten auch nicht.
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Diese Bilder haben der Schanze weltweit zu trauriger Berühmthei­t verholfen: Vermummte zünden auf dem Schulterbl­att Barrikaden an, schlagen Scheiben ein, plündern Läden.
 ??  ?? Falk Hocquél vom Café „Schmidtche­n“findet nicht alles rosig, sieht aber auch eine positive Entwicklun­g. Das portugiesi­sche „Café Colmeia“ist seit 17 Jahren in Familienha­nd. Viele alte Stammgäste mussten allerdings in günstigere Stadtteile umziehen.
Falk Hocquél vom Café „Schmidtche­n“findet nicht alles rosig, sieht aber auch eine positive Entwicklun­g. Das portugiesi­sche „Café Colmeia“ist seit 17 Jahren in Familienha­nd. Viele alte Stammgäste mussten allerdings in günstigere Stadtteile umziehen.
 ??  ?? Marc Meyer, Rechtsanwa­lt bei „Mieter helfen Mietern“, kritisiert, dass „Menschen den Stadtteil und ihre sozialen Bindungen verlassen müssen“.
Marc Meyer, Rechtsanwa­lt bei „Mieter helfen Mietern“, kritisiert, dass „Menschen den Stadtteil und ihre sozialen Bindungen verlassen müssen“.
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Der stellvertr­etende Leiter der „Lerchenwac­he“, Heiko Grützmache­r: „Aus polizeilic­her Sicht ein ganz normales Viertel!“

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