Der Kult um die Schanze
Im Szene-Viertel brodelt es.
Die Randale-Bilder beim G20Gipfel machten die Schanze weltber hmt – und sorgen f r noch mehr neugierige Besucher. Dabei ziehen unzählige Bars, Restaurants und Boutiquen jetzt schon Hamburger wie Touristen magisch an. Partyvolk besetzt jedes Wochenende die Straßen rund ums Schulterblatt. Bettler und Dealer suchen ihr Glück, die „Rote Flora“steht als wütender Klotz im Zentrum des Zirkus. Doch unter der quirligen Oberf äche brodelt es: Die Bewohner lieben ihren Stadtteil – und kämpfen, um seine Einzigartigkeit zu bewahren.
Das Schanzenviertel gute zwei Wochen nach dem G20-Gipfel: Ich habe die Aufgabe, eine Reportage über den Stadtteil zu schreiben. Worauf ich vor allem stoße: harte Ablehnung. „Du bist ja vielleicht ein netter Typ, aber wir haben keinen Bock mehr auf Presse, also verpiss dich jetzt mal wieder.“In verschiedenen Varianten bekomme ich diesen Satz öfter zu hören. Andere reden länger mit mir, wollen aber nicht zitiert werden. Die Menschen hier haben die Schnauze gestrichen voll, sie wollen ihre Ruhe haben. Kann ich gut verstehen.
Viele Schanzenbewohner sind sowieso latent genervt von den „üblichen“Touristenströmen. Alexander Gerhardt vom Stadtteilbeirat Sternschanze: „Seit den Krawallen gibt es noch mehr Touristen als sonst. Dass jeder ein Foto von der Flora macht, das kennt man ja. Mittlerweile stehen aber auch Leute vor dem Schulterblatt 1 und schießen Fotos.“Die Adresse ist deutschlandweit bekannt, seit das SEK dieses Haus bei den Krawallen als erstes stürmte.
Moment mal, Fotos von der Roten Flora? Hamburgs vermeintlich spannendstes SzeneViertel und die bekannte Bastion linksradikaler Aktivisten als Kulisse für Urlaubsfotos? „Das ist eine zwiespältige Situation für die Rote Flora. Sie wollen natürlich kein Touristenmagnet sein, sind es aber definitiv,“erzählt Gerhardt. Schon seit Langem spielt auch „Hamburg Marketing“mit dem Image der „legendären besetzten Roten Flora“als Nachbar für Szene-Bars und Medienunternehmen.
Aber wie konnte es dazu kommen, dass Stadttouren-Anbieter wie „Get Your Guide“in ihren „Walking Tours“durch die Schanze diese unterschiedlichen Dinge zusammenbringen: „Visit the Rote Flora Theater and Tim Mälzer’s Restaurant ,Bullerei‘!“Autonomes Jugendzentrum und Edel-Restaurant, Hipster und Drogendealer, Adidas-Flagstore und das alteingesessene „Café Stenzel“, in dem ältere Herrschaften ihr Stück Kuchen mit Sahne genießen – das alles vereint auf engstem Raum?
Fast alle Befragten, die mit mir reden wollen, erzählen die Geschichte der „Gentrifizierung“des Viertels. Filipes Familie be-
treibt seit 17 Jahren das portugiesi„Café che Colmeia“am Neuen Pfer„Man markt. merkt, dass kleine LäFamilienbetriebe den und aus dem Viertel verschwinden und immer mehr Ketten wie Adidas und ,Kauf dich glücklich‘ einziehen. Viele Stammgäste sind weggezogen wegen der hohen Mieten. Die kommen noch manchmal am Wochenende, wohnen aber jetzt in Rothenburgsort, Harburg oder Altona.“Marc Meyer ist Rechtsanwalt bei „Mieter helfen Mietern“. Auch er hat beobachtet, dass über die letzten 20 Jahre immer mehr jüngere Besserverdiener im Stadtteil leben. „Betroffen mavor chen allem Schicksale, wo Menschen, die lange Zeit hier gehaben, lebt aufgrund von Mieterhöhungen und Eigenbedarfskündigungen den Stadtteil und damit ihre sozialen Bindungen verlasmüssen.“sen Und auch soziale und kulturelle Projekte wie die Schanzenhöfe, deren Mietern vor Kurzem gekündigt wurde, verschwinden mehr und mehr. Dafür weitet sich das gastronomische Angebot immer weiter aus. Auch das nervt viele Anwohner – Partyvolk aus dem Umland, Junggesellenabschiede, Ballermann-Atmosphäre!
Falk Hocquél, Inhaber des Cafés „Schmidtchen“direkt neben der Roten Flora, mag auch keinen Schanzen-Ballermann. Er kann aber manchmal wenig anfangen mit der Sozialromantik, die andere im Viertel haben. Und die über die Zeiten schwärmen, als die Schanze noch kein Szeneviertel war. „Die Schanze hat durchaus auch eine gute Entwicklung gemacht, vom maroden zum angesagten Viertel. Früher gab es hier den ,Fixstern‘!“Die Drogenhilfe-Einrichtung wurde vor über zehn Jahren geschlossen – die Junkies sind seitdem kaum mehr präsent im Straßenbild, stattdessen junge Familien mit Kinderwagen.
Aber Hocquél sieht natürlich auch, dass die Mieten immer weiter steigen. Der Effekt: Das Viertel „erweitert“sich gewissermaßen. Mancher neue Laden siedelt sich im direkten (etwas günstigeren) Umfeld an – Richtung Eimsbütteler Chausee oder Richtung Stresemannstraße.
Hier liegt auch das Polizeikommissariat 16, die „Lerchenwache“. Früher gab es immer mal wieder Übergriffe von Aktivisten, die im Flora-Umfeld vermutet wurden. Aber heute? Der stellvertretende PK-Leiter Heiko Grützmacher sagt: „Aus polizeilicher Sicht ist das hier ein ganz normales Viertel. Und rechtsfreie Räume gibt es hier nicht. Wir haben natürlich ein bunteres Publikum als anderswo, aber die sind alle sehr tolerant miteinander und recht harmonisch.“Bei „bestimmten Ereignissen“wie dem Schanzenfest oder der Walpurgisnacht – da gibt es eine höhere Einsatzbelastung, aber die letzten zwei, drei Jahre war es auch da ruhiger. Und die Nachbarschaft zur Roten Flora? Man kennt sich, respektiert sich, hat einen kurzen Draht, wenn es mal Probleme gibt, etwa bei zu lauten Partys. Das Gerede von „Ganz Hamburg hasst die Polizei“kann Grützmacher für das Schanzenviertel auf jeden Fall nicht bestätigen.
Auch hat man nicht den Eindruck, als wäre die Polizei besonders scharf darauf, die Rote Flora zu räumen. Das wird im Getöse vor der Bundestagswahl ja vielerorts gefordert. Im Viertel selbst herrscht eine andere Stimmung: Für manche mehr, für andere weniger, aber trotzdem sind sich alle einig – die Flora gehört zum Viertel dazu. Einige Gewerbetreibende haben kürzlich um Solidarität mit der Flora geworben. In einem offenen Brief wurde sogar angedeutet, dass Flora-Aktivisten Einzelhändler vor vermummten Plünderern geschützt hätten. Andere mögen daran zwar nicht so recht glauben, eine Räumung wünscht trotzdem kaum einer.
Was für Folgen hätte eine solche Räumung eigentlich für das Schanzenviertel? Prof. Sebastian Zenker von der „Copenhagen Business School“beleuchtet das Thema für mich aus wirtschaftlicher Perspektive: „Dann könnte die Gefahr bestehen, dass die Schanze langfristig zu einem zweiten Winterhude wird.“Und für die Stadt? Der Ruf Hamburgs hat stark unter dem G20-Gipfel und den Randale-Bildern gelitten. Eine Räumung und die möglichen Folgen hält der Professor für fatal. „Das Beste für die Marke Hamburg wäre, wenn jetzt erst mal Gras über die Sache wächst.“Die Schanzenbewohner dürften das vermutlich genau so sehen!