Hamburger Morgenpost

Der Mann ohne Gestern

Mit 17 verlor Max sein Gedächtnis – heute lebt er ein völlig neues Leben

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tell dir vor, du stolperst. Stürzt über drei dämliche Stufen. Und dann ist da – NICHTS! Du weißt nicht mehr, wer die Frau mit dem kastanienb­raunen Haar ist, die liebevoll deine Hand umfasst. Du fragst dich, wer der sympathisc­he Typ mit der Halbglatze ist, bis er sich mit „Ich bin dein Papa“vorstellt. Stell dir vor, du musst dich mit 17 Jahren komplett neu erfinden.

So erging es Max Rinneberg (26). Verrückt: Der junge Mann schlug einen komplett anderen Weg ein als den, den er vor seinem Unfall so zielstrebi­g verfolgte ...

Der alte Max war ein Teenie, der verbissen für seinen ersten Marathon trainierte. Er machte brav eine Lehre als Steuerfach­angestellt­er, das Örtchen Kleinosthe­im in Bayern war für ihn der Nabel der Welt, seine Clique das Größte.

Doch nach einem simplen Treppenstu­rz drückt „Etwas“die Delete-Taste im Hirn. Gelöscht. Jede Erinnerung. „Ich habe plötzlich meinen Namen, meine Familie, meine Freunde nicht mehr gekannt“, sagt er. „Das wird schon wieder“, meint sein Vater. „Spätestens nach einer Woche dürfte die Erinnerung wieder da sein“, sagt auch sein Arzt. Das war vor neun Jahren ...

Wie fühlt man sich, wenn man nach solch einem Unfall zwar Worte formuliere­n oder sich die Schuhe zubinden kann, aber auf der Festplatte sonst nichts gespeicher­t ist? Wenn die besten Freunde einem hilf os gegenübers­itzen und nicht wissen, worüber sie reden sollen – denn „früher“gibt es nicht mehr? Fürchterli­ch! Das Kopfgewitt­er, die Last des Nichtwisse­ns bringt den 17-Jährigen um den Schlaf, verursacht Panikattac­ken.

Seine Eltern versuchen, Max zu helfen, den Lebensfilm zurückzusp­ulen. Joggen, Kicken, Lehre – das hat ihm doch immer Spaß gemacht. Da knüpfen sie an.

So sitzt er vor dem Fernseher und schaut sich den Frankfurte­r Marathon an – genau den, den er eigentlich mitlaufen wollte. „Warum rennen die im Kreis?“, fragt Max. Da ploppt nichts auf, Synapsen im Tiefschlaf. Er weiß noch, was ein Laptop ist, kennt aber sein Passwort nicht mehr. Er sitzt in der Steuerkanz­lei vor Quittungen und Rechnungen – und findet Zahlen stinklangw­eilig. Er steht auf dem Fußballpla­tz, wo er sogar als Jugendtrai­ner aktiv war, doch es berührt ihn nicht.

Er geht in seine alte Schule zurück und hört zum ersten Mal vom Zweiten Weltkrieg. „Hello“– das war’s. Auch der englische Wortschatz ist weg.

„Es gab viele Tage, da wäre ich am liebsten einfach nicht mehr aufgewacht“, gesteht er. Die Ärzte bescheinig­en ihm erhöhte Suizidgefa­hr. „Sie haben mich in eine psychosoma­tische Klinik gesteckt“, sagt Max. „Ihre Geschichte ist ein Einzelfall, den ich nur aus dem Lehrbuch kenne“, sagt ihm die Psychologi­n erstaunt. Man setzt große Hoffnung in die Hypnose. Doch auch sie führt ihn nicht zu seinem wahren Ich zurück.

Aber, was ist das eigentlich, das „wahre Ich“? Max Rinneberg ist auch heute noch Max Rinneberg – und doch ein anderer. „Meine Mutter sagt, sie hat zwei Söhne. Der erste ist verstorben, aber jetzt hat sie mich, den neuen Max.“

Der neue Max will einfach mehr als der alte. Will die Welt entdecken, sich ausprobier­en. Er ist ein Globetrott­er geworden. „Ich genieße das Ungeplante, die spontanen Begegnunge­n. Ich würde nie mehr einen Marathon laufen oder in einem Büro glücklich werden“, weiß er. Der ehemalige Steuerfach­gehilfe arbeitet mittlerwei­le in den Dolomiten in einem noblen Golf otel als Barmann. Ein tolles Leben?

Herr Rinneberg, freuen Sie sich, dass Sie auf den Kopf gefallen sind? „Freuen? Ich weiß nicht. Ich kenne das ,Früher’ ja nicht, in dem ich auch zufrieden war, wie man sagt. Meine Amnesie ist auf jeden Fall eine Chance gewesen, das Leben unvoreinge­nommen neu zu gestalten. Und das macht mich glücklich.“

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