… orthodoxe Juden um einen Friedhof kämpften
22.4.1992 100 empörte Gläubige besetzen die Baustelle des Mercado
Im Frühjahr 1992 sind die Augen der Juden in aller Welt auf Ottensen gerichtet. Genauer gesagt: auf eine Baustelle an der Ottenser Hauptstraße. Ein neues Einkaufszentrum – das Mercado – soll dort errichtet werden. Doch es hagelt Proteste aus der ganzen Welt. Denn der neue Konsumtempel entsteht ausgerechnet dort, wo sich früher ein jüdischer Friedhof befand.
Höhepunkt der Auseinandersetzung ist der 22. April 1992, als es rund 100 aus den USA, Belgien, England, Israel und Kanada angereisten orthodoxen Juden gelingt, durch ein Loch im Zaun auf das Baugrundstück zu kommen. Männer mit Bärten, schwarzen Hüten, dunklen Seidenmänteln und Lockenzöpfen werfen sich auf den Boden, setzen sich auf Baggerschaufeln und beginnen zu beten. Die Arbeiten werden daraufhin gestoppt. Vorerst.
Von jetzt an nimmt der Konflikt fast täglich an Schärfe zu. Über den Streit um den jüdischen Friedhof Ottensen berichten Zeitungen in der ganzen Welt. Nicht nur dass jüdische Gemeinden in Brüssel, São Paulo, Jerusalem, Antwerpen und New York Protestnoten schicken. Auch der stellvertretende US-Außenminister Lawrence Eagleburger und 34 Kongressabgeordnete mischen sich ein, appellieren an Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), etwas gegen den Neubau zu unternehmen.
US-Senatoren appellieren an Bundeskanzler Helmut Kohl
Nach jüdischer Überzeugung gehört ein Grab für immer den Toten und darf niemals angerührt werden. „Der gläubige Jude empfindet Zerstörung und Aufhebung eines Friedhofs als schmerzhafteste Tat“, so Dieter Galinski, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden. „Jede Verletzung oder Exhumierung von Gebeinen bedeutet einen Schmerz der Seele im Himmel.“Und weiter: „Die Friedhöfe sind das Einzige, was uns aus der ruhmreichen Vergangenheit übrig blieb.“
1663 ist der jüdische Friedhof Ottensen auf dem Gelände zwischen Großer Rain- und Ottenser Hauptstraße gegründet worden. Knapp 300 Jahre später enteignen die Nationalsozialisten das Areal und errichten darauf einen Luftschutzbunker. Zwar bekommt die jüdische Gemeinde das Grundstück 1950 wieder. Sie verkauft es aber an den Hertie-Konzern, der es als Standort für ein Warenhaus nutzt.
Zu einem Politikum wird die Geschichte 40 Jahre später, als das alte Hertie-Gebäude abgerissen wird und ein neues Einkaufszentrum, das Mercado, darauf entstehen soll. Denn mit einem Mal werden Spuren des längst vergessenen Friedhofs sichtbar: Grabsteine und Knochen. Aus jüdisch-orthodoxer Sicht ist das Grundstück damit immer noch ein Friedhof,
Oberrabbiner Kolitz findet einen guten Kompromiss
Das Argument, dass es die jüdische Gemeinde selbst war, die die Fläche 1950 veräußerte und es sich dabei um ein legales Geschäft handelte, besänftigt die Kritiker nicht. Ein solcher Verkauf sei – jedenfalls nach jüdischem Recht – illegal gewesen und damit nichtig, so argumentieren sie. Die jüdische Gemeinde in Hamburg erklärt, sie bedaure die Veräußerung sehr. Leider habe sie nicht das Geld, um den Handel rückgängig zu machen.
Für den Hamburger Senat eine äußerst schwierige Situation. Er hat überhaupt keine Handhabe. Die Baugenehmigung fürs Mercado zurückzuziehen – juristisch nicht vertretbar. Trotzdem muss irgendwas geschehen, denn die Stadt kann vor den weltweiten Protesten nicht einfach die Augen verschließen. Also nimmt Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) die Dinge selbst in die Hand.
Im Mai 1992 wird der Jerusalemer Oberrabbiner Itzhak Kolitz als Vermittler angerufen. Er unterbreitet schließlich einen Kompromiss-Vorschlag, mit dem alle leben können: Das Einkaufszentrum darf gebaut werden, aber die Gräber und das Erdreich des Friedhofs werden nicht angetastet. Der Bauherr muss darauf verzichten, auszuschachten, muss auf eine Tiefgarage verzichten und stattdessen ein Parkhaus bauen. Über dem Erdreich, in dem die Gebeine liegen, wird eine Betonplatte gegossen.
Am 5. Oktober 1995 findet die Einweihung des Mercado statt. Im Treppenhaus erinnert bis heute eine Gedenktafel an die Geschichte des Friedhofs und an die 4500 Menschen, die dort ihre letzte Ruhe gefunden haben.