Er fuhr seine Freunde tot
Bewährung für 32-Jährigen:
Von STEPHANIE LAMPRECHT
Er stand unter Bewährung, als er betrunken mit 150 Sachen die Billstraße (Rothenburgsort) entlangraste. Momente später waren zwei seiner Freunde tot, der dritte sitzt seit dem Unfall halbblind im Rollstuhl. Gestern stand Murat S. (32) wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung vor dem Amtsgericht Harburg. Er bekam erneut Bewährung.
Wladimir G. (30) war einst ein kräftiger, freundlicher Mann. Gelernter Lkw-Fahrer, zuletzt – wie alle Insassen in dem Unglückswagen – als Möbelpacker beschäftigt. Jetzt wird er von seiner Schwester Victoria (32) im Rollstuhl geschoben. Sein rechtes Auge haben die Ärzte verschlossen, vielleicht kann es auf diese Weise noch gerettet werden. Er ist halbseitig gelähmt, kann kaum verständlich sprechen. Trotzdem nimmt er alle Kraft zusammen, um die Fragen der Richterin zu beantworten.
Wladimir schildert, wie er zusammen mit seinen drei Kollegen am 24. August 2016 ein paar Feierabendbier an der Elbe trank – und Murat S. „ein bisschen besoffen war“: „Beim Einsteigen ist er fast umgefallen.“ „Warum sind Sie überhaupt eingestiegen?“, fragt die Richterin. Die Antwort des schwerbehinderten Zeugen ist unverständlich.
Dann schildert Wladimir G., wie er von der Rückbank noch gesagt habe: „Fahr mal ein bisschen langsamer.“Dann ein Knall. Beifahrer Thomas M. (35), Vater zweier Kinder, ist auf der Stelle tot. Auch Demir S. (21) auf der Rückbank überlebt den Aufprall am Baum nicht.
Murat S. hat den Kopf in den Händen vergraben, während sein einstiger Kollege um jedes Wort kämpft. „Wir waren wie vier Brüder“, hat der Totraser zuvor erklärt. Er sagte auch den Satz, den fast alle Alkoholfahrer sagen: „Ich habe mich nicht betrunken gefühlt.“
Im Publikum sitzen die Familien der Opfer. „Ich finde keine Worte“, sagt Murat S., „ich habe lange genug und hart getrauert. Ich habe eine Mauer um mich errichtet, viele Freunde haben sich abgewendet. Die größte Strafe ist, dass ich meinen Freunden nicht mehr in die Augen sehen kann.“Die Hinterbliebenen schnappen nach Luft, als er erklärt: „Ich bin auch ein Opfer dieser Geschichte.“
Obwohl der Vater zweier kleiner Kinder während der Todesfahrt unter Bewäh-
rung wegen Drogenhandels stand, zeigen Richterin und Schöffen sich nachsichtig: zwei Jahre auf Bewährung. In zwei Jahren kann Murat S. den Führerschein zurückbekommen.
Angelika und Edwin K., Eltern des getöteten Thomas M., haben Tränen in den Augen: „Noch mal Bewährung? Unverständlich“, sagt der Vater.
Die Richterin erklärt, dass ein Strafgericht einem so furchtbaren Unfall „in der Sache nicht gerecht“werden kann. Außerdem sei die Drogen-Bewährungsstrafe „nicht einschlägig“.
Die Staatsanwaltschaft hatte zwei Jahre neun Monate Haft gefordert. Sie kann das Urteil anfechten.