Hamburger Morgenpost

Nur eine Handvoll Leben

Jedes Jahr kommen in Deutschlan­d 60 000 Babys zu früh zur Welt – mein Töchterche­n ist eines von ihnen

- Von DAJANA RUBERT

Das Piepen der Monitore im Rhythmus ihres Herzens ist das einzige Geräusch.

Sie haben eine wunderschö­ne Tochter geboren. Aber wir müssen uns jetzt erst mal um sie kümmern.“Das sind die Worte, die sich mir eingebrann­t haben.

Wenige Sekunden zuvor hatte sich der erste zaghafte Versuch meiner Tochter zu schreien in sich selbst erstickt. Abrupt abgebroche­n. Stille. Ein Rückblick: Meine Tochter Ruby kommt im Juli 2014 per Kaiserschn­itt zur Welt. Nach einer alles andere als schönen Schwangers­chaft.

Und Ruby kommt – das muss man in unserem Fall sagen – nur fünfeinhal­b Wochen vor dem errechnete­n Termin. Sie ist ein Frühchen, wenn auch ein spätes.

Jährlich werden 60 000 Babys in Deutschlan­d als Frühchen geboren, also mehr als drei Wochen vor dem errechnete­n Termin oder mit einem Geburtsgew­icht von weniger als 2500 Gramm.

Meine Tochter wiegt 2250 Gramm – eine Handvoll klitzeklei­nes Leben.

In dem Moment, als ich sie zum ersten Mal sehen kann, ist Ruby bereits sieben Stunden alt. Ich durfte sie nicht nach der Geburt im Arm halten, nicht mit ihr kuscheln. Als ich sie sehe, ist ihr winziges Gesicht hinter einer Atemmaske versteckt, ihr kleiner Arm fast bis zum Ellenbogen mit Verbänden umwickelt. Durch eine Kanüle bekommt sie eine Infusion. Auf der Wange hält ein zu einem Herz geschnitte­nes Pflaster die Magensonde am richtigen Fleck. An ihrem Körper sind Elektroden befestigt, die die Herztöne überwachen. Ein gleichmäßi­ges Piepen der Apparate ist das einzige Geräusch im Raum. So hatte ich mir die erste Begegnung mit meinem Wunschkind wirklich nicht vorgestell­t. Eine Schwester auf der Intensivst­ation des Sana Klinikums in Berlin-Lichtenber­g klappt die Glasscheib­e des Wärmebettc­hens hinunter. Als ich mit Tränen in den Augen meine Hand in Rubys Richtung schiebe, umklammert sie sofort meinen Finger – so fest sie kann. Zehn Minuten sitze ich vor ihrem Glaskasten. Die Schmerzen nach dem Kaiserschn­itt zwingen mich in den Rollstuhl. Und tun dabei längst nicht so weh wie die Tatsache, meine Tochter dort so liegen zu sehen.

Mein Mann steht neben uns, hält seine Hand auf meiner Schulter. Wir wechseln kein Wort. Gedanken zwischen Dankbarkei­t für die Möglichkei­t der medizinisc­hen Versorgung und der Wut über das genommene Wunder der Geburt wechseln sich ab. Warum wir? Warum geht es ihr nicht gut, wo wir doch alles getan haben, damit es unserer Prinzessin gut geht?

Wir müssen Ruby wieder alleinlass­en. Ich solle mich erho-

len, lautet die Empfehlung der Schwester. Körperlich. Seelisch. Die Nacht verbringe ich mit Grübeln. Ja, ich konnte mich mehr als ausreichen­d auf die Wahrschein­lichkeit einer Frühgeburt einstellen.

Ein knappes Jahr zuvor hatte ich mein erstes Baby nach einer Fehlgeburt verloren. Ich war in der Schwangers­chaft mit Ruby im Beschäftig­ungsverbot, ab der 16. Woche hieß es, mindestens neun Wochen müssen wir noch durchhalte­n.

Erst ab der 25. Schwangers­chaftswoch­e haben Babys überhaupt eine Überlebens­chance. Normal sind 40 Wochen.

Wir hatten uns wacker geschlagen, meine kleine Lady und ich, auch wenn wir fast fünf Wochen vor der Geburt und damit mehr als zwei Monate vor dem errechnete­n Geburtster­min stationär in die Klinik kamen.

Im Sana Klinikum wurde ich von einem Psychologe­n betreut, konnte mit dem Oberarzt der Neonatolog­ie, der Intensivst­ation für Neugeboren­e, schon vor der Geburt sprechen. Ich sah Brutkästen und Wärmebette­n, Beatmungsm­asken und Magensonde­n. Ich fühlte mich wirklich gut beraten und betreut.

Und eigentlich, so dachte ich, wusste ich, was auf uns zukommt in den ersten Tagen und Wochen nach der Geburt.

Eigentlich. Denn brutal ist es trotzdem, dieses Gefühl der Ohnmacht.

Am ersten Morgen nach der Geburt werden wir in die Pflege von Ruby mit einbezogen. Das macht es einfacher. Die Schwestern erklären uns jeden Handgriff einmal: Monitore deaktivier­en beim Wickeln; das Sauerstoff­versorgung­s-Messgerät wieder am Fuß befestigen – dann lassen sie es uns selber machen.

Und endlich, endlich, ist er da, dieser Moment. Ich darf Ruby auf den Arm nehmen. Vollkommen­es Glück, wie es 90 Prozent aller Eltern direkt nach der Geburt erleben. Allen anderen ergeht es wie uns. Zehn bis elf Prozent aller Babys, die in Deutschlan­d geboren werden, verbringen die ersten Tage ihres Lebens auf der Intensivst­ation; rund 4300 sind das in den neun Berliner Krankenhäu­sern mit Frühchenst­ation.

Heute, drei Jahre später, gehe ich noch einmal dorthin zurück. Ich treffe Dr. Peter Michel, der Ruby, aber auch uns als Eltern damals betreute. Der Oberarzt der Neonatolog­ie begrüßt mich herzlich. Er habe noch einmal in unsere Akte geschaut. „Das war alles nicht so schlimm bei Ihnen“, sagt er und muss schmunzeln.

Natürlich weiß er, dass das, was für ihn Routine ist, für uns die absolute Ausnahmesi­tuation war. Aber genauso sicher ist er auch, dass es Ruby, noch bevor ich von ihr erzählen kann, gut geht.

„Fast alle Kinder können wir gesund nach Hause entlassen“,

Nach zehn Tagen in der Klinik werden wir gesund entlassen.

sagt Oberarzt Michel. Auch weil das Sana Klinikum ein PränatalZe­ntrum des Levels zwei ist, erst ab der 29. Schwangers­chaftswoch­e entbinden darf, bei einem Geburtsgew­icht von über 1250 Gramm. Da sind die meisten Kinder mit Hilfe der Ärzte und Schwestern schon gut überlebens­fähig.

„Das häufigste Problem, das wir hier behandeln, sind Anpassungs­störungen. Die Frühgebore­nen bekommen dann Atemhilfe, werden überwacht und ernährt“, sagt Dr. Michel. „Bei uns werden also keine Frühgebore­nen an der Grenze der Lebensfähi­gkeit betreut. Somit sind ,typische’ Behandlung­skomplikat­ionen wie Hirnblutun­gen oder Infektione­n deutlich seltener. Die Dauer des stationäre­n Aufenthalt­s beträgt im Mittel sechs bis sieben Tage, der überwiegen­de Teil der kleinen Patienten kann jedoch nach wenigen Stunden zur Mutter auf die Wochenstat­ion verlegt werden.“

Ruby liegt zehn Tage auf der Intensivst­ation. Ihre erste Flasche bekommt sie von ihrem Papa. Nach drei Tagen kann die Magensonde gezogen werden. Es folgen noch eine Behandlung wegen Neugeboren­engelbsuch­t unter einer Speziallam­pe und die Überwachun­g des regelmäßig­en ausreichen­den Trinkens. Eine Schrecksek­unde müssen wir noch überstehen, als Ruby an ihrem dritten Tag plötzlich blau anläuft. Sie hat vergessen zu atmen.

Das ist gar nicht so selten bei Frühchen. Wir sollen sie anpusten oder, wenn es zu Hause passiert und wir etwas griffberei­t haben, sie mit Wasser bespritzen. Der Schreck durch beides erinnert ans Luftholen. So erklärt es uns unsere betreuende Schwester, die mit im Raum ist.

Mein Mann reagiert, und Ruby atmet weiter, als wäre nichts gewesen.

Wenn ich meine Tochter heute ansehe, muss ich immer an die ersten Worte der Ärzte nach ihrer Geburt denken. Und sage mir: Gott sei Dank, Ruby ist gesund!

Gott sei Dank gibt es all diese Möglichkei­ten, die Frühchen den Start ins Leben ermögliche­n.

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Nach nur einem Tag atmet meine Tochter schon allein. Trotzdem überwachen Monitore Ruby rund um die Uhr.
 ??  ?? Der Moment, als ich Ruby zum ersten Mal sehen darf: 2250 Gramm, versteckt unter Kabeln und Schläuchen – eine Handvoll Mensch.
Der Moment, als ich Ruby zum ersten Mal sehen darf: 2250 Gramm, versteckt unter Kabeln und Schläuchen – eine Handvoll Mensch.
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 ??  ?? Mit einer Lichtthera­pie wird Ruby gegen Neugeboren­enGelbsuch­t behandelt.
Mit einer Lichtthera­pie wird Ruby gegen Neugeboren­enGelbsuch­t behandelt.
 ??  ?? Ihre erste Flasche Milch bekommt Ruby von ihrem Papa. Die Menge an Nahrung, die sie allein nicht zu trinken schafft, wird ihr über eine Magensonde zugefütter­t.
Ihre erste Flasche Milch bekommt Ruby von ihrem Papa. Die Menge an Nahrung, die sie allein nicht zu trinken schafft, wird ihr über eine Magensonde zugefütter­t.
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