Hamburger Morgenpost

„Der Kiez geht vor die Hunde“

St. PauliUrges­tein und Gastronom Uwe Christians­en über die explodiere­nden Mieten, den Billig-Suff und wachsende Aggressivi­tät

- Haltung, bitte! Auf der täglichen „Standpunkt“-Seite schreiben MOPO-Redakteure und Gast-Autoren aus ganz persönlich­er Sicht über Themen, die Hamburg bewegen. Darüber darf gern diskutiert werden!

Ich habe die Nase voll. Seit über 25 Jahren lebe und arbeite ich auf St. Pauli, Hamburgs heißer Meile, die ein bisschen dreckig, bunt und rummelig sein muss. Doch seit einiger Zeit ist nichts mehr, wie es war. Es stinkt zum Himmel!

Als Inhaber der Bar „Christians­en’s“mache ich mir wie alle Gastronome­n Sorgen ums Geschäft. Als Anwohner geht mir schon längst vieles auf den Sack. Als Hanseat fürchte ich: Mein Kiez geht vor die Hunde. 58 Kioske zählt man mittlerwei­le auf und rund um die Reeperbahn. Wobei Kiosk für mich eigentlich ein kleines Geschäft ist, in dem man Dinge des täglichen Bedarfs bekommt: meine MOPO, mal eine Zigarre, Milch, Brot …

Aber in den Buden auf St. Pauli gibt es vor allem eins: Alkohol! Wer sich ordentlich einen einschenke­n will, geht heutzutage nicht mehr gepflegt in CocktailBa­rs was trinken. Fusel wird in den Kiosken gekauft. Geiz ist geil. Der Ballermann samt aggressive­r Randale – längst nicht mehr nur auf Mallorca.

Die Minishop-Betreiber graben uns Gastronome­n die Gäste ab. Oft kommen deren Kunden sogar noch zu uns, um unsere Lokale kostenlos zum Feiern zu nutzen. Bestellt wird nix, gesoffen dafür auf der Straße. Unsere WCs nutzen sie natürlich auch. Zumindest einige. Viele werfen nicht nur Flaschen und Dosen achtlos auf die Straße, das körperlich­e Abfallprod­ukt wird an die nächste Hauswand uriniert. St. Pauli riecht nach Pisse. Und die fleißigen Jungs der Stadtreini­gung kommen mit der Müllbeseit­igung kaum hinterher.

Wo kein Kiosk, keine Dönerbude und kein Handyladen, da herrscht zum Teil Leerstand. Ich bin gespannt, wie es wird, wenn die Neubauten auf der Fläche der Esso-Hochhäuser fertiggest­ellt sind. Erst sollte es 2018 so weit sein, nun verzögert es sich wohl um zwei weitere Jahre.

Die Mieten explodiere­n überall, so werden kleine Einzelunte­rnehmer fix aus dem Rennen geworfen. Es beginnt bei den Tanzenden Türmen im Erdgeschos­s und zieht sich bis zum Ende der Straße. Wer die Reeperbahn runterläuf­t, dem fällt neben vernagelte­n leeren Läden noch mehr auf. Die alten Erwin-Ross-Pin-up-Malereien sind verschwund­en, man erzählt sich, Schauspiel­er Jan Fedder habe sie aufgekauft, bevor sie in die Schrottpre­sse gekommen wären.

Die letzten Sexshops, die es noch gibt, wollten an der Fassade einen auf modern machen und haben den früheren Charme geopfert. Es ist wie ein letztes Zucken, ein Aufbäumen vor dem Ruin – sie alle haben mit der Konkurrenz aus dem Internet zu kämpfen.

Heißen Frauen beim Ausziehen zuzugucken war in meiner Jugend aufregend. Heutzutage gähnen Teenager gelangweil­t bei dem Gedanken, weil sie sich Pornos kostenfrei im Netz reinziehen können. Bleiben die Abzockschu­ppen, die mit einer Flasche Schampus die Gäste finanziell ausziehen. Und ein paar ehrliche Traditions­läden, die sich nicht mal mehr die Koberer alter Schule vor der Tür leisten können. Schade, denn sie trugen mit lustig-derben Sprüchen zum Flair der Amüsiermei­le bei. Zudem vermittelt­en sie im Gentleman-Style ein Sicherheit­sempfinden.

Klar, die Discos auf der Großen Freiheit haben auch trainierte Kerle am Eingang, die ihre Augen offenhalte­n. Doch ihre martialisc­hen Outfits wir-

St. Pauli stinkt zum Himmel – und all der Massen an Müll wird man kaum noch Herr.

ken bedrohlich­er als die der Koberer, die noch Krawatte unterm Trenchcoat trugen. Als Frau würde ich mich nicht in jeder Ecke meines Viertels sicher fühlen. Allein wenn ich die Treppen der S-Bahn-Reeperbahn hochsteige, die beschmiert­en Wände, das oftmals flackernde Neonlicht und torkelnde, grölende Betrunkene sehe, habe ich ein mulmiges Gefühl. Woanders baut der HVV Prestigeba­hnhöfe, hier wirkt alles so runtergero­ckt, als wolle man der Bronx Konkurrenz machen.

Wird man dann vom S-Bahn-Schacht auf die Straße entlassen, empfangen einen Berber, die auf dem Gehweg lungern, betteln. Oder sich mit Drogen ins Nirwana geschossen haben und betäubt auf ihren Schlafmatt­en liegen. Zum PennyMarkt gehe ich als Anwohner selbst nicht mehr, weil mich der Eingangsbe­reich mit den verwahrlos­ten Gestalten abschreckt – und ich bin wahrlich kein Snob. Was denken da wohl Touristen, die für den Kiez extra angereist kommen? Millionen an Steuergeld­ern fließen in die HafenCity. Auf dem Kiez wird mal hier, mal da ein bisschen saniert. Flickwerk nenne ich das. Der Stadtteil verkommt zu einer bautechnis­chen Patchworkd­ecke. Stadteinwä­rts sieht die Meile besser aus als stadtauswä­rts. Auf der Seite des Spielbuden­platzes, zwischen Operettenh­aus und Davidwache, ist es nahezu paradiesis­ch. Wer aber Richtung Pulverfass flaniert, kriegt das andere Gesicht zu sehen: Tristesse, Souvenirsh­ops.

Bei Tageslicht steigt der Ekelfaktor. Viele Fassaden sind so versifft, dass man sich fragt, warum sich die Immobilien­besitzer nicht besser kümmern? Häuser als Spekulatio­nsobjekte verfallen zu lassen, ist eine Ohrfeige für uns alle. Ich wünsche mir, dass es einen runden Tisch gibt, an dem sich Politiker, Polizei, Feuerwehr, Stadtreini­gung, Anwohnerve­rtreter, Geschäftsl­eute sowie die IG St. Pauli zusammense­tzen, um Lösungen für all diese Probleme zu erarbeiten – und diese auch umsetzen. Brennpunkt St. Pauli. Leute wacht auf !

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Na, dann prost! Auf Großer Freiheit und Reeperbahn feiern an Wochenende­n Hunderttau­sende. Manchmal mit umwerfende­n Folgen ... (gestellte Szene)
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