„Ich habe in meiner Klasse 17 Kinder. Zehn davon sind verhaltensauffällig. Wohlwollend betrachtet.“
Alltag als Albtraum: In der MOPO schildert eine erfahrene Hamburger Lehrerin die unhaltbaren Zustände an einer Brennpunkt-Schule
Ich habe in meiner Klasse 17 Kinder. Zehn davon sind verhaltensauffällig. Julia Sandner (Name geändert)
Es gibt Tage, an denen frage ich mich, ob ich eigentlich noch ganz dicht bin. Warum tue ich mir das an? An diesen Tagen kommt aus dem Freundeskreis der immer gleiche gut gemeinte Rat: Such dir einen anderen Job! Und obwohl ich so ausgepumpt bin, erwidere ich jedes Mal das Gleiche: Ich bin in der Schule genau da, wo ich hingehöre. Ich liebe meine Arbeit, ich liebe die Kinder – ja, bis auf wenige Ausnahmen auch die ganz schwierigen – und das lasse ich mir nicht kaputt machen.
Aber ich will mich auch nicht verheizen lassen. Nicht von den Eltern, die uns Lehrern die ganze Erziehungsarbeit überlassen. Und vor allem nicht von der Hamburger Schulpolitik, die zuerst unsere Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert und dann lapidar sagt, wir sollten mal weniger jammern.
Ich bin jetzt 54 Jahre alt, seit 26 Jahren Lehrerin und habe selbst drei erwachsene Kinder. Ich arbeite an einer Grundschule in einem sozialen Brennpunkt – er könnte in Jenfeld, Horn, Neugraben oder Wilhelmsburg liegen. Im vergangenen Jahr bin ich plötzlich umgekippt. Schuld war der Stress. Danach hatte ich Schwindelanfälle, fühlte mich nicht sicher auf den Beinen. War lange krankgeschrieben und wollte doch zurück.
Ich habe es nicht bereut. Obwohl der Alltag für mich und meine Kollegen durch die Umstellungen an den Schulen im Zuge der Inklusion viel belastender geworden ist. Für die Kinder ebenso. Die Integration von behinderten oder sozial auffälligen und lernverzögerten Jungen und Mädchen in die „normale“Schule ist zwar der richtige Weg, aber die Reform ist viel zu schlecht ausgestattet.
Bis vor ein paar Jahren hatten wir gut versorgte IR-Klassen. Jede zweite Stunde war bei uns mit zwei Lehrern oder einem Lehrer und einem Sonderpädagogen besetzt. Im Zuge der Inklusion wurden die Mittel ab 2012 aber massiv gekürzt. Doppelbesetzungen im Unterricht gibt es nun viel seltener.
Die meisten Geschichten, die über den Unterrichtsalltag an Brennpunkt-Schulen kursieren, sind nicht übertrieben. Gerade endete bei mir ein harmonisches Legespiel im Sitzkreis plötzlich im totalen Chaos. Die Kinder sollten sich zwischen verschiedenen Arbeitsblättern entscheiden. Das überforderte sie so sehr, dass sie sich die Blätter und Puzzleteile aus den Händen rissen. Sie schlugen sich, stritten, schrien wild herum. Mir brach der Schweiß aus, mein Herz raste und ich habe gebrüllt und Kinder an den Schultern voneinander weggezerrt.
Natürlich liegt das Problem in den Elternhäusern und in der Gesellschaft. Die einen Kinder sind es so gewohnt, dass sie der Nabel der Welt sind, dass sie nur sich sehen. Die anderen sind gewohnt, überhaupt keine Beachtung zu bekommen. Sie holen sich die Aufmerksamkeit dann woanders. Besser negativ auffallen als gar nicht beachtet zu werden.
Mein Kollege sagt immer: „Stell dir vor, du gehst in die Psychiatrie auf Station X und alles kommt dir gleich viel normaler vor.“Ich habe in meiner vierten Klasse 17 Kinder. Von denen sind zehn verhaltensauffällig. Wohlwollend betrachtet. Ein ADHS-Junge hält dank seiner Medikamente bis 13 Uhr durch, danach hängt er nur noch unterm Tisch und macht Baller-Geräusche.
Sein Tischnachbar kann sich nicht abgrenzen, er hockt sofort mit unterm Tisch.
Ein afghanischer Flüchtlingsjunge ist im Verhalten schon sehr pubertär, er provoziert die anderen Kinder, stachelt sie an. Es endet im Streit. Ein kleiner russischer Junge ist immer schlecht drauf, lässt sich für keine Aufgabe begeistern. Außer wenn man sich ganz allein ihm widmet. Ein anderer kippelt ständig und rennt während der Stunde durch die Klasse. Er f iegt früher oder später aus jedem Kurs raus und sitzt dann den Rest der Zeit im Schulbüro. Den lernschwachen Jungen auf dem Platz neben ihm stört das nicht. Er legt den Kopf auf die Arme und dämmert vor sich hin.
Da ist Unterricht manchmal einfach nicht möglich. Ich schicke dann Kinder in den Gruppenraum, lasse andere einfach links liegen und arbeite nur mit denen, die mitmachen. Die gibt es natürlich auch. Etwa ein syrisches Mädchen, das sehr begabt ist. Aber sie braucht so viel Unterstützung, dass ich das meist in der Pause mit ihr nacharbeite.
Die Handvoll engagierter Eltern, die wir haben, sitzen im Elternrat. Aber die ganz große Mehrheit zeigt erschütternd wenig Interesse an den eigenen Kindern. Sie werden morgens abgeliefert, in der Schule rundum versorgt und erst um 16 Uhr wieder abgeholt. Beim letzten Elternabend kamen aus der einen Klasse neun Eltern, aus der anderen sogar nur zwei!
Damit will ich nicht sagen, dass die Eltern böse und gleichgültig sind. Viele haben das Herz am rechten Fleck. Aber sie haben einfach selbst schon keine Vorbilder mehr gehabt, stammen aus zerrütteten Familien. Einige haben Alkoholund Drogenprobleme, andere sind psychisch krank, da übernehmen die Kinder schon die Elternrolle. Viele Erwachsene sind zudem arbeitslos oder als alleinerziehende berufstätige Mütter im Vollstress. Und dann gibt es noch die für uns Lehrer sehr schwierigen Gruppen, die sich hier nicht integrieren wollen. Bei uns sind das etwa einige russische Familien.
All das nehme ich abends mit nach Hause. Ohne mein Glas Rotwein komme ich schon lange nicht mehr runter. Mit Freunden treffen ist während der Woche nicht drin. Nachts wache ich oft auf und kann nicht wieder einschlafen. Da schreibe ich dann in mein Tagebuch, was mich vom Tag nicht mehr loslässt. Ich weiß, ich kann die Gesellschaft nicht verändern, ich kann auch die Eltern nicht ändern. Aber ich bin eine gute Lehrerin und ich könnte noch besser sein, wenn wir endlich unsere Klassen wieder mit zwei Lehrern betreuen könnten. Das fordere ich von der Hamburger Politik.