Ein Aufschrei gegen die Vertreibung
Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer über Brandanschläge auf Wohnungslose und menschenunwürdige Politik
Die Verelendung der Hamburger Obdachlosen nimmt rasant zu. Wir sehen täglich die Verzweifelten. Stephan Karrenbauer
Als ich mir Gedanken über diesen Text gemacht habe, lag ich gerade mit einer Magen-Darm-Grippe im Bett. Ich stellte mir vor, wie es mir jetzt gehen würde, wenn ich keine Wohnung hätte, kein Bett und niemanden, der fragt: „Wie geht es dir, was kann ich f r dich tun?“
Ich bin wütend! Ja. Und zugleich bin ich traurig. Es gibt immer noch Obdachlose auf Hamburgs Straßen – und sie werden nicht weniger, sondern mehr. Sozialeinrichtungen, die ihnen Wohnraum vermitteln sollen, klagen seit Jahren, dass es nur noch wenige Angebote gibt.
Die Zahl von Menschen in öffentlichen Unterkünften steigt stetig. Etwa 5000 Personen erhalten derzeit bei „Fördern und Wohnen“ein Dach überm Kopf. Aber immer mehr Personen werden abgewiesen. Oder sie müssen bürokratische Hürden überwinden, wozu sie nicht mehr in der Lage sind. Wir reden von ca. 2000 Menschen, die auf Hamburgs Straßen leben. Und ihre Verelendung nimmt rasant zu.
Wir Sozialarbeiter sehen täglich die vielen Verzweifelten, die mit der Frage „Wo soll ich nur hin?“zu uns kommen. Die uns ihre persönliche Geschichte erzählen. Und wir können nur zuhören und haben kaum eine Möglichkeit, ihnen eine sichere und dauerhafte Unterkunft zu vermitteln. Wir versorgen wohnungslose Menschen mit Essen und Kleidung, wir verteilen im Winter wie im Sommer Schlafsäcke und Zelte. Wir schreien auf, wenn Obdachlose wieder einmal ihre Schlafplätze durch Vertreibung verlieren.
Wir verfolgen den Gesundheitszustand über Jahre, sehen bei vielen den körperlichen Verfall und gehen mit diesen Bildern im Kopf nach Hause. Wo sind wir hingekommen, dass wir uns für ein Recht der Obdachlosen einsetzen müssen, im Park oder unter Brücken Platte zu machen, weil wir ihnen nichts Bes- seres anbieten können?
Draußen zu schlafen wird immer gefährlicher. Es gab schon sechs Brandanschläge auf Obdachlose in diesem Jahr! Hinzu kommen Überfälle, bei vielen wurde die Polizei gar nicht eingeschaltet: Obdachlose glauben nicht mehr daran, dass ihnen wirklich geholfen wird. Auch wer in einer öffentlichen Unterbringung lebt, hat oder hatte die Hoffnung auf eine eigene Wohnung und ein ganz normales Leben. Aber dafür fehlen der Stadt die Konzepte. Dass viele nach Monaten und Jahren dann resignieren und sich aufgeben, ist verständlich . Ja, wir haben ein Winternotprogramm, das im Vergleich zu anderen Städten wie Berlin und München einen hohen Standard hat. Die große Errungenschaft in diesem Jahr ist aus Sicht der Sozialbehörde, dass jeder Wohnungslose einen abschließbaren Schrank hat. Das fordert die Wohnungslosenhilfe seit vielen Jahren. Darf man sich jetzt nach 20 Jahren damit brüsten, dass endlich jeder einen Schrank hat?
Ich glaube fest daran, dass der Mensch sich an seinen eigenen Maßstäben für ein menschenwürdiges Leben orientieren sollte. Für mich gehört die Möglichkeit, eine Tür hinter sich zu schließen, dazu. In meinem Bett, in meinem Zimmer bleiben zu können, wenn ich mich krank fühle.
Das ist im Winternotprogramm anders: Jeden Morgen müssen die Menschen gehen, egal wie das Wetter ist und wie sie sich fühlen. Von offizieller Seite heißt es, man müsse sauber machen. Zudem sollen sich die Personen bewegen und Beratungsstellen aufsuchen, sagt die Sozialbehörde. Aber die Beratungsstellen haben ja gar nicht für alle ein Angebot.
Ich glaube fest daran, dass die Gleichbehandlung aller Menschen das einzige Mittel gegen eine Radikalisierung unserer Gesellschaft ist. Wir dürfen nicht zulassen, dass verschiedene Landsleute unter den Obdachlosen gegeneinander ausgespielt werden. Ich kenne niemanden, der freiwillig obdachlos ist, egal woher er kommt.
Es ist richtig, Menschen aus anderen Ländern, die hier gestrandet sind und die nach Hause wollen, Unterstützung zu geben. Etwa mit einer Fahrkarte. Es ist aber falsch, den Menschen, die hier bleiben wollen, jegliche Unterstützung zu verweigern und so zu tun, als wären sie selbst schuld an ihrer Lage.
Wenn wir nicht wollen, dass es immer mehr radikale Gruppen gibt, müssen wir das Bild auf der Straße verändern. Ins gleiche Horn zu blasen wie die Radikalen bedeutet für mich nur eine Unterstützung der Spalter. Wir müssen endlich Konzepte erarbeiten, die auch umgesetzt werden, um positive Signale bei den Hamburgern zu verankern.
Dafür brauchen wir neue Ideen wie etwa Ankunftshäuser, in denen Wanderarbeiter erst mal eine Unterkunft finden für wenig Geld. Dort könnten sie über Rechte und Pf ichten eines jeden Bürgers beraten werden. Diese könnten auch ein guter Ort für gezielte Arbeitsvermittlung sein. Dann sind die Menschen nicht dubiosen Arbeitsvermittlern ausgesetzt, die ihnen am Abend nicht einmal ihren Lohn auszahlen.
Doch statt neue Wege zu gehen, schauen wir zu, wie Menschen weiter verelenden. Die Abschreckung und Vertreibung von Wohnungslosen hat das Problem noch nie gelöst und wird es auch nie lösen. Stattdessen brauchen wir einen echten Masterplan, wie wir das Problem Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit in den Griff bekommen. Haltung, bitte! Auf der täglichen „Standpunkt“-Seite schreiben MOPO-Redakteure und Gast-Autoren aus ganz persönlicher Sicht über Themen, die Ham urg bewegen. Darüber darf gern diskutiert werden! standpunkt@mopo.de