Wir KiezBewohner können nicht mehr!
Rund um die Reeperbahn wird gesoffen, gefeiert und sich auf die Nase gehauen: Gehört alles zu St. Pauli, findet Ankea Janßen. Schlimm sind die vielen Groß-Events, bei denen Zigtausende in ihren Stadtteil einfallen
„Ich könnte hier nicht wohnen.“Diesen Satz habe ich schon so oft gehört. Von meinen Eltern, meinem Bruder, von Freunden und Bekannten – aber auch von Wildfremden. Sie schütteln den Kopf über die Betrunkenen, die aus den Kneipen stolpern, die Prostituierten, die sich wahllos an Männer klammern und die Drogen-Dealer, die vor meiner Tür rumlungern. Sie rümpfen die Nase über den Dreck, den Müll, die Kotze und Pisse.
Keine Frage, St. Pauli ist nichts für Zartbesaitete. Der Kiez ist nicht das Treppenviertel in Blankenese, kein ruhiges Rentnerparadies wie Poppenbüttel. Hier ist es laut und schmutzig, es wird gesoffen, gefeiert, gedealt und sich auf die Nase gehauen. St. Pauli pulsiert und polarisiert.
Über all das habe ich mich nie beschwert, denn die Vorzüge des Stadtteils waren mir immer bewusst: zentral, kurze Wege, die besten Konzerte, Clubs und Bars um die Ecke und nur einen Katzensprung zur Elbe. Kulturelle Herkunft, Sprache und Hautfarbe sind hier egal. Leben und leben lassen. Genau das macht St. Pauli für mich lebenswert. Doch die Frage ist, wie lange noch? Denn irgendwann ist Schluss – die Schmerzgrenze überschritten.
ESC, Hafengeburtstag, Motorradgottesdienst, Harley Days, Schlagermove und Fan-Feste. Um es mit den Worten des Künstlers Rocko Schamoni zu sagen: „Alles, was laut und scheiße ist, findet hier statt.“Und ist es mal keine Massenparty, dann legen Marathonläufer und Triathleten den Stadtteil lahm, indem sie stundenlang die Reeperbahn blockieren. Drei Veranstaltungen an einem Wochenende stattfinden zu lassen, wie es in diesem Jahr geplant ist, kann aus Anwohnersicht nur als reine Provokation empfunden werden. Hunderttausende werden über den Stadtteil herfallen und ein Schlachtfeld aus Scherben, Urinpfützen und Erbrochenem hinterlassen. Diesen Wahnsinn zu genehmigen, wäre rücksichtslos. Und unfair.
„Heul nicht rum, so ist das halt, wenn man auf St. Pauli wohnt“, werden viele jetzt sagen. Aber nein, so ist das halt nicht. Wieso dürfen auf dem Kiez alle wilde Sau spielen? Weil sie danach ins Taxi torkeln und in Barmbek aufwachen? Es geht nicht darum, dass auf St. Pauli nicht gefeiert werden soll. Das wurde es immer, das wird es immer. Aber es geht darum, diesen geschichtsträchtigen Stadtteil zu schützen und nicht mehr und mehr mit Großveranstaltungen zu schänden.
Letztes Jahr war ich auf einer Stadtteilversammlung im „Kölibri“. Es sollte über die Drogenkriminalität im Viertel gesprochen werden. Statt um die Dealer ging es aber nur um die Touristenmassen, die die Bewohner nicht mehr ertragen können. Eine Frau schlug vor, wie in Barcelona „Tourist go home“-Schilder an die Balkone zu hängen. Eine Momentaufnahme, die zeigt, wie sehr die Nerven blank liegen.
St. Pauli ist als bekanntester Stadtteil Deutschlands eines der wichtigsten Aushängeschilder für den Tourismus. Aber es ist vor allem auch Wohnviertel. Mittlerweile müssen die Bewohner einen
zu hohen Preis bezahlen. Kult-Kneipen wie die „Hasenschaukel“schließen, geschmacklose FastFood-Ketten wie das „Hooters“öffnen. St. Pauli verliert mehr und mehr seinen Charme. Und seine Lebensqualität. Für die Touris sind Schlagermove und Co. ein Wegwerferlebnis im Vollrausch. Zwischen all den Dönerbuden und Saufkiosken leben müssen am Ende wir.
Daher wird es höchste Zeit, dass die Politik zur Partybremse wird. Sonst geht St. Pauli zugrunde. „Ich kann mir den Schlagermove auch in Winterhude oder Eppendorf vorstellen“, hat Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) vor gar nicht so langer Zeit gesagt. Keine schlechte Idee. Auch durch andere Stadtteile kann hervorragend gegrölt, gerannt und geknattert werden – mal sehen, wie tolerant sich deren Bewohner dann zeigen.
Auch durch andere Stadtteile kann hervorragend gegrölt, gerannt und geknattert werden. Ankea Janßen