Hamburger Morgenpost

Rainer Wortmann

Wenn es darum geht, einen unbekannte­n mutmaßlich­en Verbrecher im Bild festzuhalt­en, dann ist Hauptkommi­ssar Rainer Wortmann erste Wahl – er gilt als der Beste seines Fachs

- Von MICHAEL SANTEN

Die Augenzeugi­n ist sich sicher: Das Mädchen, das sie in der Berliner S-Bahn gesehen hat, das war Inga. Ein Mann war bei ihr, ein auffällige­r Mann: rote orientalis­che Kopfbedeck­ung, weißes Leinenhemd, barfuß.

Die fünfjährig­e Inga G. aus Schönebeck (Sachsen-Anhalt) verschwand am 2. Mai 2015 bei einem Ausflug mit ihren Eltern und ihren drei Geschwiste­rn. Die Familie befand sich auf einer Feier auf dem Gelände einer Diakonie-Einrichtun­g in Wilhelmsho­f bei Stendal. Inga ging am frühen Abend mit anderen Kindern in den Wald, um Holz für ein Lagerfeuer zu sammeln – und kehrte nicht zurück.

Die Augenzeugi­n, die Inga in Berlin gesehen haben will, kommt aus Aalen bei Stuttgart. Zurück in ihrer Heimatstad­t ging sie zur Polizei.

Rainer Wortmann erstellte mit ihrer Hilfe ein Phantombil­d des Mannes. Der heute 50-Jährige gilt als der Beste seines Fachs: Er bildet Kollegen aus dem ganzen Bundesgebi­et aus, sogar Behörden aus dem europäisch­en Ausland fordern ihn an.

Hauptkommi­ssar Wortmann sitzt in einem schlichten Büro im Landeskrim­inalamt Stuttgart vor mehreren Computern. Dort fertigt er Bilder von mutmaßlich­en Verbrecher­n an, nach denen gefahndet wird: Betrüger, Räuber, Vergewalti­ger, Mörder.

Ein Phantombil­d ist laut Duden „ein nach Zeugenauss­agen erstelltes Bild eines gesuchten Straftäter­s“. Die Bezeichnun­g ist unglücklic­h. Das Bild zeigt ja kein Phantom, keine unwirklich­e, sondern eine reale Gestalt.

Das FBI veröffentl­ichte vermutlich das erste Phantombil­d überhaupt. Das war 1932. Es zeigt den mutmaßlich­en Entführer und Mörder des knapp zweijährig­en Sohnes von Charles Lindbergh, dem Mann, der als erster Mensch den Atlantik nonstop im Flugzeug überquerte. Der deutschstä­mmige Einwandere­r Bruno Richard Hauptmann wurde der Tat bezichtigt und, sie bis zuletzt bestreiten­d, dafür hingericht­et.

Rainer Wortmann arbeitete erst als Kraftfahre­r am Flughafen Stuttgart, ging 1991 zur Polizei und wechselte nach sechs Jahren Streifendi­enst zur Kripo. Nach dem Studium an der Polizeihoc­hschule übernahm er 2007 die „Fachkoordi­nation Phantombil­d“. Er war damit für die Ausbildung der 40 Phantombil­dner in Baden-Württember­g verantwort­lich.

„Ich sagte mir: Okay, jetzt schule ich andere“, erinnert sich Wortmann, „aber ich möchte auch weiter geschult werden.“Er bekam die Chance, sich für die Weiterbild­ung zum Forensic Artist an der FBI Academy in Quantico (Virginia) zu bewerben. „Aber mit der Bewerbung muss man auch drei Porträt-Zeichnunge­n einreichen“, sagt er. „Weil die Kollegen in den USA vorwiegend per Hand zeichnen und kaum Phantombil­der am Computer produziere­n. Und da ich damals, 2008, nicht zeichnen konnte, hab’ ich einen Wochenendk­urs bei der VHS Stuttgart belegt.“

Der Kurs frustriert­e Wortmann. So ging er in eine Buchhandlu­ng und fand auf einem Wühltisch das Buch „Richtig zeichnen“, das ihn 5 Euro kostete. „Das Buch war klasse!“, sagt er. „Schon nach ein paar Wochen war ich richtig gut.“Das FBI sah es auch so, es nahm ihn an. Seine Porträts – eins zeigte Hollywood-Star Audrey Hepburn, die beiden anderen zwei Kollegen aus dem LKA – bekamen großes Lob.

Phantombil­der anzufertig­en ist längst reine Computerar­beit. Rainer Wortmann war an den ersten Computerpr­ogrammen, die 1998 auf den Markt kamen, maßgeblich beteiligt. Die Phantombil­dzeichner wurden damit zu Phantombil­dersteller­n, die nicht mit Papier und Bleistift, sondern mit Bildschirm und Maus arbeiten. Wortmann zufolge haben von den 120 Kollegen nur noch zehn bis 15 zeichneris­che Fähigkeite­n.

Die Phantombil­dersteller in Deutschlan­d fertigen pro Jahr etwa 3500 Bilder an. Dabei greifen sie auf die von Wortmann selbst angelegte Datenbank mit 4500 Körperteil­en zurück. Er nennt sie „Ersatzteil­lager“. Die meisten Phantombil­der werden polizeiint­ern verwendet, nur ein kleiner Teil gelangt in die Zeitungen und ins Fernsehen.

Computer hin, Computer her – Rainer Wortmann übt sich im Zeichnen. Die Freizeit verbringt er mit Staffelei, Kohle- und Bleistift sowie Radiergumm­i, um Promis wie Johnny Depp, Sean Connery, Marilyn Monroe oder Humphrey Bogart zu Papier zu bringen.

„Ausdruckss­tarke Persönlich­keiten zu zeichnen, das entspannt mich“, sagt er. „Es schult aber auch das Auge, das visuelle Denken und das richtige Proportion­ieren. Von Augen, Ohren, Mund, Nase zum Beispiel.“

Der Hauptkommi­ssar hat seine Promi-Porträts auch schon ausgestell­t, viele für einen guten Zweck verkauft, zugunsten von Opfern von Straftaten und für die mit Peter Maffay kooperiere­nde „Tabaluga“-Kinderstif­tung.

Autor ist er jetzt auch noch. Kürzlich ist sein Buch „Phantombil­der“erschienen, ein Handbuch für Phantombil­d-

Ich habe mit einem 5-EuroBuch vom Wühltisch zeichnen gelernt.

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Hauptkommi­ssar Rainer Wortmann, er arbeitet beim LKA Stuttgart.
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