Rainer Wortmann
Wenn es darum geht, einen unbekannten mutmaßlichen Verbrecher im Bild festzuhalten, dann ist Hauptkommissar Rainer Wortmann erste Wahl – er gilt als der Beste seines Fachs
Die Augenzeugin ist sich sicher: Das Mädchen, das sie in der Berliner S-Bahn gesehen hat, das war Inga. Ein Mann war bei ihr, ein auffälliger Mann: rote orientalische Kopfbedeckung, weißes Leinenhemd, barfuß.
Die fünfjährige Inga G. aus Schönebeck (Sachsen-Anhalt) verschwand am 2. Mai 2015 bei einem Ausflug mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern. Die Familie befand sich auf einer Feier auf dem Gelände einer Diakonie-Einrichtung in Wilhelmshof bei Stendal. Inga ging am frühen Abend mit anderen Kindern in den Wald, um Holz für ein Lagerfeuer zu sammeln – und kehrte nicht zurück.
Die Augenzeugin, die Inga in Berlin gesehen haben will, kommt aus Aalen bei Stuttgart. Zurück in ihrer Heimatstadt ging sie zur Polizei.
Rainer Wortmann erstellte mit ihrer Hilfe ein Phantombild des Mannes. Der heute 50-Jährige gilt als der Beste seines Fachs: Er bildet Kollegen aus dem ganzen Bundesgebiet aus, sogar Behörden aus dem europäischen Ausland fordern ihn an.
Hauptkommissar Wortmann sitzt in einem schlichten Büro im Landeskriminalamt Stuttgart vor mehreren Computern. Dort fertigt er Bilder von mutmaßlichen Verbrechern an, nach denen gefahndet wird: Betrüger, Räuber, Vergewaltiger, Mörder.
Ein Phantombild ist laut Duden „ein nach Zeugenaussagen erstelltes Bild eines gesuchten Straftäters“. Die Bezeichnung ist unglücklich. Das Bild zeigt ja kein Phantom, keine unwirkliche, sondern eine reale Gestalt.
Das FBI veröffentlichte vermutlich das erste Phantombild überhaupt. Das war 1932. Es zeigt den mutmaßlichen Entführer und Mörder des knapp zweijährigen Sohnes von Charles Lindbergh, dem Mann, der als erster Mensch den Atlantik nonstop im Flugzeug überquerte. Der deutschstämmige Einwanderer Bruno Richard Hauptmann wurde der Tat bezichtigt und, sie bis zuletzt bestreitend, dafür hingerichtet.
Rainer Wortmann arbeitete erst als Kraftfahrer am Flughafen Stuttgart, ging 1991 zur Polizei und wechselte nach sechs Jahren Streifendienst zur Kripo. Nach dem Studium an der Polizeihochschule übernahm er 2007 die „Fachkoordination Phantombild“. Er war damit für die Ausbildung der 40 Phantombildner in Baden-Württemberg verantwortlich.
„Ich sagte mir: Okay, jetzt schule ich andere“, erinnert sich Wortmann, „aber ich möchte auch weiter geschult werden.“Er bekam die Chance, sich für die Weiterbildung zum Forensic Artist an der FBI Academy in Quantico (Virginia) zu bewerben. „Aber mit der Bewerbung muss man auch drei Porträt-Zeichnungen einreichen“, sagt er. „Weil die Kollegen in den USA vorwiegend per Hand zeichnen und kaum Phantombilder am Computer produzieren. Und da ich damals, 2008, nicht zeichnen konnte, hab’ ich einen Wochenendkurs bei der VHS Stuttgart belegt.“
Der Kurs frustrierte Wortmann. So ging er in eine Buchhandlung und fand auf einem Wühltisch das Buch „Richtig zeichnen“, das ihn 5 Euro kostete. „Das Buch war klasse!“, sagt er. „Schon nach ein paar Wochen war ich richtig gut.“Das FBI sah es auch so, es nahm ihn an. Seine Porträts – eins zeigte Hollywood-Star Audrey Hepburn, die beiden anderen zwei Kollegen aus dem LKA – bekamen großes Lob.
Phantombilder anzufertigen ist längst reine Computerarbeit. Rainer Wortmann war an den ersten Computerprogrammen, die 1998 auf den Markt kamen, maßgeblich beteiligt. Die Phantombildzeichner wurden damit zu Phantombilderstellern, die nicht mit Papier und Bleistift, sondern mit Bildschirm und Maus arbeiten. Wortmann zufolge haben von den 120 Kollegen nur noch zehn bis 15 zeichnerische Fähigkeiten.
Die Phantombildersteller in Deutschland fertigen pro Jahr etwa 3500 Bilder an. Dabei greifen sie auf die von Wortmann selbst angelegte Datenbank mit 4500 Körperteilen zurück. Er nennt sie „Ersatzteillager“. Die meisten Phantombilder werden polizeiintern verwendet, nur ein kleiner Teil gelangt in die Zeitungen und ins Fernsehen.
Computer hin, Computer her – Rainer Wortmann übt sich im Zeichnen. Die Freizeit verbringt er mit Staffelei, Kohle- und Bleistift sowie Radiergummi, um Promis wie Johnny Depp, Sean Connery, Marilyn Monroe oder Humphrey Bogart zu Papier zu bringen.
„Ausdrucksstarke Persönlichkeiten zu zeichnen, das entspannt mich“, sagt er. „Es schult aber auch das Auge, das visuelle Denken und das richtige Proportionieren. Von Augen, Ohren, Mund, Nase zum Beispiel.“
Der Hauptkommissar hat seine Promi-Porträts auch schon ausgestellt, viele für einen guten Zweck verkauft, zugunsten von Opfern von Straftaten und für die mit Peter Maffay kooperierende „Tabaluga“-Kinderstiftung.
Autor ist er jetzt auch noch. Kürzlich ist sein Buch „Phantombilder“erschienen, ein Handbuch für Phantombild-
Ich habe mit einem 5-EuroBuch vom Wühltisch zeichnen gelernt.