Johann Scheerer schreibt über die Tage der Angst um seinen Vater
Er findet, dass er lange genug geschwiegen hat, 22 Jahre. Am Ende hatte er den Wunsch, sich endlich alles von der Seele zu schreiben. Es „besprechbar“zu machen, es zu „entmystifizieren“, so nennt er das. Es geht um das einschneidendste Erlebnis im Leben Johann Scheerers: die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma.
„Wir sind dann wohl die Angehörigen“, heißt das Buch, das der 35-jährige Hamburger Musikproduzent geschrieben hat und das am Donnerstag auf den Markt kommt. Darin schildert er den Entführungsfall aus der Sicht des 13-jährigen Jungen, der er damals war, und erzählt davon, was die Tat mit ihm und seiner Familie gemacht hat.
Der 25. März 1996: Am späten Abend ist Multimillionär Jan Philipp Reemtsma unterwegs auf dem kurzen Weg zwischen Arbeits- und Wohnhaus, als die Täter ihn in ein Auto zerren und einen Brief zurücklassen, der beschwert ist mit einer Handgranate: Darin die Lösegeldforderung, die anfangs noch 20 Millionen Mark beträgt.
„Johann, ich muss dir was sagen“– mit diesen Worten seiner Mutter beginnt für Scheerer das Trauma. „Wir müssen jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen.“Was dem Jungen als Erstes durch den Kopf schießt: ausgerechnet Erleichterung. Ihm kommt in den Sinn, dass er jetzt wohl erst mal nicht in die Schule muss und ihm deshalb die verhasste Lateinklausur erspart bleibt. Im nächstes Moment schämt er sich für diesen Gedanken.
Der Junge ist sicher, dass er seinen Vater nie wiedersehen wird. Werden Entführte nicht immer erschossen? Er fällt in ein schwarzes Loch. Die Schule besucht er nicht mehr. Er ist krankgemeldet. Nur ein einziger enger Freund darf ihn besuchen. Daheim gibt es keine Privatsphäre mehr. Das Haus wird von der Polizei belagert. Quälende Wochen, in denen die Ermittler über Grußpost-Annoncen in der MOPO mit der Polizei kommunizieren.
Als es zu eklatanten Ermittlungsfehlern kommt, beschließt die Familie, selbst mit den Entführern zu verhandeln. Nach 33 Tagen und der Zahlung von 30 Millionen Mark kommt Reemtsma schließlich frei.
Völlig abgemagert ist er, hat Bart und sieht erledigt aus. Für den Jungen ist es, als kehre der Vater zurück von den Toten.
Der Moment des Wiedersehens ist seltsam. Es sei nicht üblich in seiner Familie, sich bei einer Begrüßung zu umarmen, erzählt Scheerer der „Süddeutschen“, „jetzt wurde das erwartet. Man kann sich nach so etwas ja nicht nicht umarmen. Aber es war eben ein fremdes Verhalten.“
Mit niemandem redet der 13-Jährige. Damals nicht. Und auch später nicht. „Es ist einfach so ein Riesending gewesen, dass es zu keinem Zeitpunkt besprechbar war“, sagt Scheerer dem „Spiegel“. „Es gab nie eine Situation, wo ich das hätte anbringen können.“
Sogar untereinander schweigt die Familie. Scheerer vergleicht seine Eltern und sich mit Kriegsversehrten. „Ein gemeinsames Trauma hält sie beisammen, doch jeder hat ein ganz anderes erlebt, jeder diese 33 Tage auf komplett unterschiedliche Weise.“Eine gemeinsame Kommunikationsebene gebe es daher nicht.
Erst, als das Buch schon fertig war, hat Scheerer seinem Vater davon erzählt. „Ich hatte Angst, dass er es überhaupt nicht gut findet, dass er sagt, das sei seine Geschichte und nicht meine.“Offensichtlich eine unbegründete Sorge. Bei Scheerers öffentlicher Lesung am 4. April im Literaturhaus werden Vater und Mutter anwesend sein.
Übrigens: Der Entführer Thomas Drach ist seit Oktober 2013 wieder auf freiem Fuß. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort war Ibiza. Er soll pleite sein.