Eines Helden
Der größte Traum Juri Gagarins war es, den Mond zu betreten. Für ihn, den ersten Menschen im Weltraum, wäre es der logische nächste Schritt gewesen. Es blieb ein Traum. Denn am Mittwoch, 27. März 1968, stürzt ein Jagdf ugzeug vom Himmel über Nowosjolowo, einem Dorf bei Kirschatsch, rund 100 Kilometer Luftlinie von Moskau. Es zerschellt in einem Wald. Die Trümmer der MiG-15 verteilen sich auf 810 Meter Länge und 50 Meter Breite. Suchmannschaften f nden den toten Copiloten, aber nicht den Piloten. Hat er, Gagarin, sich mit dem Schleudersitz retten können?
Sieben Jahre zuvor war Juri Gagarin ein „Held der Sowjetunion“geworden, dessen Tat weltweit erstrahlte: Am 12. April 1961 umrundete der damals 27-jährige Kosmonaut im Raumschiff „Wostok 1“einmal die Erde (siehe Grafiken).
Die Sowjetunion setzte damit im Wettrennen mit den USA in den Weltraum einen weiteren Meilenstein. Im Oktober 1957 schoss sie mit „Sputnik“den ersten Satelliten in die Erdumlauf ahn; im November 1957 brachte sie mit Hündin Laika an Bord von „Sputnik 2“das erste Lebewesen in den Weltraum; im März 1965 verließ Kosmonaut Alexej Leonow als erster Mensch ein Raumschiff und schwebte im All.
Seine Ausbildung zum Kampfpiloten hatte Juri Gagarin wegen seines Weltraumprogramms unterbrochen. Nachdem er im Februar 1968 zum Kosmonauten-Ausbilder ernannt worden war, wollte er sie zu Ende bringen.
An jenem Märztag unternahm Gagarin einen Übungsf ug mit dem Ausbilder Wladimir Serjogin, einem erfahrenen Kampfpiloten. Die MiG startete um 10.19 Uhr vom Flugplatz Schtscholkowo bei Swjosdny Gorodok (Sternenstädtchen) nordöstlich von Moskau. Gagarin sollte eine Acht mit 60 bis 70 Grad Neigung f iegen, zwei horizontale Rollen, einen Sturzf ug mit nachfolgender Kampf urve, einen Looping und einen halben Looping.
Fluglehrer Serjogin verkürzte die Übungszeit von 20 auf gut vier Minuten, weil sich das Wetter rapide verschlechterte. Sein Schüler Gagarin meldete um 10.29 Uhr, dass er zurückf iegen wolle, bestätigte noch, dafür die Erlaubnis erhalten zu haben – dann riss der Kontakt ab.
Suchmannschaften finden Gagarin einen Tag nach dem Absturz im Trümmerfeld. Oder das, was sie für ihn halten.
Es ist schnell klar, dass weder Gagarin noch Serjogin versucht haben, sich aus der MiG zu katapultieren. Irgendetwas muss sie vollkommen überrascht haben. Das Jagdf ugzeug könnte in eine Vogelschar gef ogen oder mit einem Wetterballon kollidiert sein.
Eine Kommission mit 200 Experten untersucht den Absturz. Ihre Erkenntnisse füllen drei Dutzend Aktenbände, ihr Abschlussbericht umfasst 30 Seiten. Ihr Fazit: Der Tod der beiden Piloten sei die Folge „einer unglücklichen Verkettung verhängnisvoller Umstände“. Alle Akten verschwinden als Staatsgeheimnis im Archiv.
Die Geheimniskrämerei lässt Verschwörungstheorien wild wuchern:
➤ Die MiG sei vom amerikanischen Geheimdienst CIA abgeschossen worden.
➤ Gagarin sei dem Alkohol verfallen gewesen, habe das Flugzeug im Rausch zum Absturz gebracht.
➤ Serjogin, der Fluglehrer, habe sich aus Eifersucht auf Gagarin mit ihm in den Tod gestürzt.
➤ Staats- und Parteichef Leonid Breschnew habe sich von Gagarin bedroht gefühlt und ihn beseitigen lassen.
➤ Gagarin habe den Absturz überlebt und sei 1990 in einer Nervenklinik gestorben.
➤ Gagarin habe, des Berühmtseins überdrüssig, seinen Tod vorgetäuscht und sei, chirurgisch verändert, untergetaucht.
➤ Gagarin sei von Außerirdischen, die er im Weltraum aufgeschreckt habe, entführt worden.
Igor Kusnetzow gehörte der Kommission an, die den Absturz untersuchte. In der „Komsomolskaja Prawda“behauptete der Luftfahrtingenieur 2008: Das Cockpit von Gagarins MiG sei nicht hermetisch verschlossen gewesen, was die Piloten gezwungen habe, in einen plötzlichen Steilf ug überzugehen, wobei beide ohnmächtig geworden seien.
Eduard Scherscher war auch Mitglied der Kommission. Grobe Fahrlässigkeiten der Piloten hätten zum Absturz geführt, sagte der Luftfahrtgeneral der „Nesawissimoje Wojennoje Obosrenije“(Unabhängige Militärrundschau) 2008.
Ein Beispiel: Gagarin sei minutenlang „frei“gef ogen, wofür es ihm an Erfahrung gefehlt hätte, weshalb er die Maschine beim Sturzf ug nicht rechtzeitig habe abfangen können. Das hätte damals nicht veröffentlicht werden dürfen, die Order habe gelautet: „Helden begehen keine Fehler.“
Der Untersuchungsbericht von 1968 wurde 2011 freigegeben, zum
50. Jahrestag von Gagarins Weltraumf ug. Daraus geht unter anderem hervor:
Gagarin war ein unerfahrener Pilot; er hatte so wenige Flugstunden, dass man seine Zulassung zum Steuern von Düsenf ugzeugen hätte einziehen müssen.
Die Vorbereitung auf den Übungsf ug war ungenügend. Gagarin bekam keine Anweisungen, wie er was zu f iegen habe.
Die MiG-15 war in einem schlechten Zustand. Das Jagdf ugzeug war mit Außenbordtanks versehen, was die Aerodynamik verschlechterte – und was daher bei Kunstf ugmanövern streng verboten war.
Die Flugroute führte viel zu nahe an anderen Übungsf ügen vorbei.
Die Freigabe des Berichts änderte am alten Fazit nichts.
Der ehemalige Kosmonaut Alexej Leonow präsentierte 2013 anhand freigegebener Dokumente und einer Rekonstruktion des Unglücks am Computer diese Theorie: Ein unautorisiert gestarteter Abfangjäger vom Typ Su-15 sei Gagarins MiG-15 versehentlich zu nahe gekommen; die MiG geriet durch die Turbulenzen, welche die doppelt so schnelle und große Suchoi verursachte, ins Trudeln und in den freien Fall.
Berechnungen am Computer ergaben: Gagarin fehlten nur zwei Sekunden zur Stabilisierung des Sturzf ugs.
Zehntausende Menschen säumen die Straßen Moskaus, als am
30. März die Urnen mit Juri Gagarins und Wladimir Serjogins Asche zum Roten Platz gefahren werden, wo sie an der Kremlmauer beigesetzt werden. Zum ersten Mal in der sowjetischen Geschichte ist für ein Nicht-Staatsoberhaupt Nationaltrauer ausgerufen worden.
„Er hat uns alle in den Weltraum gerufen“, sagte Neil Armstrong über Gagarin. Armstrong betrat am
16. Juli 1969 als erster Mensch den Mond. Es heißt, er habe einen Orden Gagarins dabeigehabt.