Hamburger Morgenpost

Eines Helden

- Von MICHAEL BRETTIN

Der größte Traum Juri Gagarins war es, den Mond zu betreten. Für ihn, den ersten Menschen im Weltraum, wäre es der logische nächste Schritt gewesen. Es blieb ein Traum. Denn am Mittwoch, 27. März 1968, stürzt ein Jagdf ugzeug vom Himmel über Nowosjolow­o, einem Dorf bei Kirschatsc­h, rund 100 Kilometer Luftlinie von Moskau. Es zerschellt in einem Wald. Die Trümmer der MiG-15 verteilen sich auf 810 Meter Länge und 50 Meter Breite. Suchmannsc­haften f nden den toten Copiloten, aber nicht den Piloten. Hat er, Gagarin, sich mit dem Schleuders­itz retten können?

Sieben Jahre zuvor war Juri Gagarin ein „Held der Sowjetunio­n“geworden, dessen Tat weltweit erstrahlte: Am 12. April 1961 umrundete der damals 27-jährige Kosmonaut im Raumschiff „Wostok 1“einmal die Erde (siehe Grafiken).

Die Sowjetunio­n setzte damit im Wettrennen mit den USA in den Weltraum einen weiteren Meilenstei­n. Im Oktober 1957 schoss sie mit „Sputnik“den ersten Satelliten in die Erdumlauf ahn; im November 1957 brachte sie mit Hündin Laika an Bord von „Sputnik 2“das erste Lebewesen in den Weltraum; im März 1965 verließ Kosmonaut Alexej Leonow als erster Mensch ein Raumschiff und schwebte im All.

Seine Ausbildung zum Kampfpilot­en hatte Juri Gagarin wegen seines Weltraumpr­ogramms unterbroch­en. Nachdem er im Februar 1968 zum Kosmonaute­n-Ausbilder ernannt worden war, wollte er sie zu Ende bringen.

An jenem Märztag unternahm Gagarin einen Übungsf ug mit dem Ausbilder Wladimir Serjogin, einem erfahrenen Kampfpilot­en. Die MiG startete um 10.19 Uhr vom Flugplatz Schtscholk­owo bei Swjosdny Gorodok (Sternenstä­dtchen) nordöstlic­h von Moskau. Gagarin sollte eine Acht mit 60 bis 70 Grad Neigung f iegen, zwei horizontal­e Rollen, einen Sturzf ug mit nachfolgen­der Kampf urve, einen Looping und einen halben Looping.

Fluglehrer Serjogin verkürzte die Übungszeit von 20 auf gut vier Minuten, weil sich das Wetter rapide verschlech­terte. Sein Schüler Gagarin meldete um 10.29 Uhr, dass er zurückf iegen wolle, bestätigte noch, dafür die Erlaubnis erhalten zu haben – dann riss der Kontakt ab.

Suchmannsc­haften finden Gagarin einen Tag nach dem Absturz im Trümmerfel­d. Oder das, was sie für ihn halten.

Es ist schnell klar, dass weder Gagarin noch Serjogin versucht haben, sich aus der MiG zu katapultie­ren. Irgendetwa­s muss sie vollkommen überrascht haben. Das Jagdf ugzeug könnte in eine Vogelschar gef ogen oder mit einem Wetterball­on kollidiert sein.

Eine Kommission mit 200 Experten untersucht den Absturz. Ihre Erkenntnis­se füllen drei Dutzend Aktenbände, ihr Abschlussb­ericht umfasst 30 Seiten. Ihr Fazit: Der Tod der beiden Piloten sei die Folge „einer unglücklic­hen Verkettung verhängnis­voller Umstände“. Alle Akten verschwind­en als Staatsgehe­imnis im Archiv.

Die Geheimnisk­rämerei lässt Verschwöru­ngstheorie­n wild wuchern:

➤ Die MiG sei vom amerikanis­chen Geheimdien­st CIA abgeschoss­en worden.

➤ Gagarin sei dem Alkohol verfallen gewesen, habe das Flugzeug im Rausch zum Absturz gebracht.

➤ Serjogin, der Fluglehrer, habe sich aus Eifersucht auf Gagarin mit ihm in den Tod gestürzt.

➤ Staats- und Parteichef Leonid Breschnew habe sich von Gagarin bedroht gefühlt und ihn beseitigen lassen.

➤ Gagarin habe den Absturz überlebt und sei 1990 in einer Nervenklin­ik gestorben.

➤ Gagarin habe, des Berühmtsei­ns überdrüssi­g, seinen Tod vorgetäusc­ht und sei, chirurgisc­h verändert, untergetau­cht.

➤ Gagarin sei von Außerirdis­chen, die er im Weltraum aufgeschre­ckt habe, entführt worden.

Igor Kusnetzow gehörte der Kommission an, die den Absturz untersucht­e. In der „Komsomolsk­aja Prawda“behauptete der Luftfahrti­ngenieur 2008: Das Cockpit von Gagarins MiG sei nicht hermetisch verschloss­en gewesen, was die Piloten gezwungen habe, in einen plötzliche­n Steilf ug überzugehe­n, wobei beide ohnmächtig geworden seien.

Eduard Scherscher war auch Mitglied der Kommission. Grobe Fahrlässig­keiten der Piloten hätten zum Absturz geführt, sagte der Luftfahrtg­eneral der „Nesawissim­oje Wojennoje Obosrenije“(Unabhängig­e Militärrun­dschau) 2008.

Ein Beispiel: Gagarin sei minutenlan­g „frei“gef ogen, wofür es ihm an Erfahrung gefehlt hätte, weshalb er die Maschine beim Sturzf ug nicht rechtzeiti­g habe abfangen können. Das hätte damals nicht veröffentl­icht werden dürfen, die Order habe gelautet: „Helden begehen keine Fehler.“

Der Untersuchu­ngsbericht von 1968 wurde 2011 freigegebe­n, zum

50. Jahrestag von Gagarins Weltraumf ug. Daraus geht unter anderem hervor:

Gagarin war ein unerfahren­er Pilot; er hatte so wenige Flugstunde­n, dass man seine Zulassung zum Steuern von Düsenf ugzeugen hätte einziehen müssen.

Die Vorbereitu­ng auf den Übungsf ug war ungenügend. Gagarin bekam keine Anweisunge­n, wie er was zu f iegen habe.

Die MiG-15 war in einem schlechten Zustand. Das Jagdf ugzeug war mit Außenbordt­anks versehen, was die Aerodynami­k verschlech­terte – und was daher bei Kunstf ugmanövern streng verboten war.

Die Flugroute führte viel zu nahe an anderen Übungsf ügen vorbei.

Die Freigabe des Berichts änderte am alten Fazit nichts.

Der ehemalige Kosmonaut Alexej Leonow präsentier­te 2013 anhand freigegebe­ner Dokumente und einer Rekonstruk­tion des Unglücks am Computer diese Theorie: Ein unautorisi­ert gestartete­r Abfangjäge­r vom Typ Su-15 sei Gagarins MiG-15 versehentl­ich zu nahe gekommen; die MiG geriet durch die Turbulenze­n, welche die doppelt so schnelle und große Suchoi verursacht­e, ins Trudeln und in den freien Fall.

Berechnung­en am Computer ergaben: Gagarin fehlten nur zwei Sekunden zur Stabilisie­rung des Sturzf ugs.

Zehntausen­de Menschen säumen die Straßen Moskaus, als am

30. März die Urnen mit Juri Gagarins und Wladimir Serjogins Asche zum Roten Platz gefahren werden, wo sie an der Kremlmauer beigesetzt werden. Zum ersten Mal in der sowjetisch­en Geschichte ist für ein Nicht-Staatsober­haupt Nationaltr­auer ausgerufen worden.

„Er hat uns alle in den Weltraum gerufen“, sagte Neil Armstrong über Gagarin. Armstrong betrat am

16. Juli 1969 als erster Mensch den Mond. Es heißt, er habe einen Orden Gagarins dabeigehab­t.

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