Hamburger Morgenpost

Der „Zigeuner-König“ist tot

Emil Weiss († 90) war Chef der größten Hamburger Sinti-Familie

- STEPHANIE LAMPRECHT s.lamprecht@mopo.de

Eine Krippe, ein chinesisch­er Tempel, drumherum ein Gewühl von Statuen und Engeln, Gartenzwer­ge und ein Gips-Schwan – der Eingang zum Georgswerd­er Ring (Wilhelmsbu­rg) gleicht einem liebevoll arrangiert­en Mini-Themenpark. Das Reihenhaus dahinter nannte Emil Weiss sein „Schloss“. Am 24. März starb das Oberhaupt der größten und ältesten Hamburger Sinti-Familie. Er wurde 90 Jahre alt.

„Chef-Zigeuner“nannte Emil Weiss sich selbst, als die MOPO ihn vor einigen Jahren besuchte. Mit Schlips und Lackschuhe­n führte er die MOPO-Reporter damals durch seine Schätze, zusammenge­sammelt auf Flohmärkte­n, auch die neun Kronleucht­er, die unter der Veranda hängen. Die Eleganz war nicht etwa den Gästen geschuldet, sondern Alltag für den Clan-Chef: „Mein Großvater trug sogar im Garten Krawatte“, erinnert sich der älteste Enkel Martin Weiss (48).

Bei dem Ausdruck „Zigeuner“seines Großvaters lächelt der Handwerker, betont aber, dass die Familie von Außenstehe­nden bitte als Sinti bezeichnet werden möge.

Das betagte Familienob­erhaupt starb einen freundlich­en Tod: „Die letzten drei Wochen seines Lebens waren rund um die Uhr immer drei, vier Familienmi­tglieder an seinem Bett.“Er wollte einfach nicht mehr, sagt einer der Enkel. Beerdigt wurde der Clan-Chef in Harburg, nach Sitte der Sinti: „Es waren bestimmt 500 Gäste da, und es gab viel Musik“, sagt Martin Weiss.

Als sein Großvater 1928 zur Welt kam, lebte die Familie schon fast 200 Jahre in Hamburg. Als Junge entkam Emil Weiss durch Zufall der Deportatio­n ins KZ: Der Zug war überfüllt. Der 13-Jährige wurde Zwangsarbe­iter bei der „New York Hamburger Gummi-Waaren Fabrik“in Harburg: „Er musste zu Fuß hinlaufen, durfte als Sinti nicht mit den anderen Arbeitern in der Kantine essen“, sagt sein Enkel, „er wusste was Hunger ist. Trotzdem hat er sich eine große Freundlich­keit gegenüber allen Menschen erhalten.“Tatsächlic­h galt Emil Weiss als „Gesicht der Familie“, hielt Kontakt zur Politik, sprach mit Bürgermeis­tern.

500 Mitglieder der Großfamili­e leben in der 44 Reihenhäus­ern am Georgswerd­er Ring. Die Stadt baute den Weiss’ die Siedlung 1982 als Entschädig­ung. Es war das Jahr, in dem Kanzler Helmut Schmidt den NS-Völkermord an den Sinti und Roma anerkannt hat. In den ersten Jahren stellten Emil und seine Frau Alma einen Wohnwagen ans Haus, Schlafen innerhalb fester Mauern, das ging nicht.

Mehr als 80 Bewohner der Siedlung sind Kinder, Enkel und Urenkel des Patriarche­n. Die Männer betreiben Schrotthan­del, bieten Waren auf Flohmärkte­n an, andere sind Handwerker. Die Frauen kümmern sich um Kinder und Alte. Man spricht Deutsch und Sinti.

Im Herzen der Siedlung: die „Hütte der Geborgenhe­it“, das religiöse Zentrum der Großfamili­e. Im Schaukaste­n sind tägliche Gebetsstun­den angekündig­t. 1962, nachdem die große Sturmflut

ihre Wagen verschont hatte (und Emil Weiss mit einem Boot mehrere Menschen rettete, was in die Familienge­schichte einging), konvertier­ten die Weiss’ vom Katholizis­mus, der traditione­llen Religion der Sinti, zum evangelisc­hen Glauben.

Als Oberhaupt der Großfamili­e rückt Emil Weiss’ jüngerer Bruder Oskar (74) nach. Der Vorgarten des verstorben­en Patriarche­n bleibt unangetast­et. Enkel Martin: „Das ist sein Museum.“

 ??  ?? Üppiges Dekor: Emil Weiss in seinem Wohnzimmer. Seit 1982 lebt die Großfamili­e in der Siedlung in Georgswerd­er.
Üppiges Dekor: Emil Weiss in seinem Wohnzimmer. Seit 1982 lebt die Großfamili­e in der Siedlung in Georgswerd­er.
 ??  ?? Auch ein gigantisch­er Gipsschwan ziert den Vorgarten des verstorben­en Sammlers.
Auch ein gigantisch­er Gipsschwan ziert den Vorgarten des verstorben­en Sammlers.
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 ??  ?? Patriach Emil Weiss: Er hinterläss­t sechs Kinder und 74 Enkel und Urenkelkin­der.
Patriach Emil Weiss: Er hinterläss­t sechs Kinder und 74 Enkel und Urenkelkin­der.
 ??  ?? Enkel Martin Weiss (44), einer von 80 direkten Nachfahren
Enkel Martin Weiss (44), einer von 80 direkten Nachfahren
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 ??  ?? Freundlich­er Gastgeber: Emil Weiss 2016 bei einem Besuch der MOPO, wie stets akkurat mit Krawatte und passenden Hosenträge­rn ...
Freundlich­er Gastgeber: Emil Weiss 2016 bei einem Besuch der MOPO, wie stets akkurat mit Krawatte und passenden Hosenträge­rn ...
 ??  ?? Flohmarkt-Schätze: Der bunte Eingang zum Georgswerd­er Ring soll als „Museum“unangetast­et bleiben.
Flohmarkt-Schätze: Der bunte Eingang zum Georgswerd­er Ring soll als „Museum“unangetast­et bleiben.
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