Hamburger Morgenpost

Dieser Trainer ist wunderbar!

Wie Christian Titz den HSV umgebaut hat, den Stars und Fans wieder Hoffnung gibt

- Seine Bodenständ­igkeit:

Sonnabend, 16.16 Uhr. Der Mann im Radio ruft „Tor für den HSV!“und ich verliere die Kontrolle. Ein spitzer Schrei, vier Riesen-Hüpfer durch die Küche. Und direkt danach dieses ungute Gefühl: Was zur Hölle mache ich hier schon wieder? Ich hab’ doch damit abgeschlos­sen, verdammt! Seit Monaten bin ich auf HSV-Entzug – und jetzt hat mich der Kerl wieder angefixt. Na, danke, Herr Titz!

Die Lage war doch klar: Ich wollte nicht mehr. Keinen Bock mehr auf Enttäuschu­ngen. Keine Lust darauf, emotional das auszubaden, was andere da ständig anrichten. Distanz schaffen, verdammt. Erwachsen sein. Sich lieber um die wichtigen Dinge kümmern.

Und dann kommt da dieser Typ daher. Gelernter Verwaltung­sfachanges­tellter und staatlich geprüfter Betriebswi­rt. Als Spieler für Waldhof Mannheim und den SC 07 Idar-Oberstein hat er’s nicht ins Panini-Album geschafft. Und auch als Trainer reichte es bisher nicht gerade für Glanz und Gloria: Den FC Homburg hat er als Trainer in die Vierte Liga geführt.

Als also alles in Trümmern liegt beim HSV, nachdem in einem finalen Akt des Dünnsinns Bernd Hollerbach die letzte Hoffnung auf einen Klassenerh­alt zerbrummel­n durfte, als die Geier kreisen und Stadt und Land sich abwenden in Grauen, da kommt Christian Titz ins Spiel.

Vermutlich nur weil für diesen Drecks-Job, für diese Harakiri-Nummer mit sieben Punkten Abstand auf einen rettenden Platz kurz vor SaisonEnde und einer zerfallene­n Truppe, einfach niemand sonst zur Verfügung gestanden hätte, da hat man dann beim HSV entschiede­n: Ach komm, lass uns doch einfach den Coach der Zweiten nehmen. Ist ja eh schon wurscht und kostet wenigstens nichts.

Und dann macht der Mann so viel richtig. Da ist:

➤ Sein Auftreten. Ruhig, sachlich, kompetent, freundlich, ehrlich. Das war zu Beginn so – und das war auch am Sonnabend im ZDF-„Sportstudi­o“zu bestaunen.

➤ Sein Aufräumen: Stinkstief­el fliegen. Jungspunde aus der Zweiten mischen die Etablierte­n auf. Niemand kann sich auf alten Verdienste­n ausruhen. Aber wer sich Vertrauen verdient, bekommt es. Und dann stemmt ein zuvor vielfach aussortier­ter Bubi wie

Matti Steinmann plötzlich die zentrale

Rolle im defensiven

Mittelfeld. Und der Mini-Japaner Ito, der bei Hollerbach zuletzt nicht mal auf der Bank saß, wirbelt, dass die ganze Liga staunt.

➤ Seine Konsequenz:

Titz macht, was vielleicht noch nie ein

Trainer im Abstiegska­mpf getan hat. Kein

Beißen, Treten, Kratzen. Er lässt Fußball spielen! Offensiv, schnell, selbstbewu­sst. Und die zuvor sechs Spiele in Folge siegreiche­n Schalker sind so baff, dass sie sich von der vermeintli­chen Trümmer-Truppe gegen die Wand spielen lassen. „Der HSV hat entschiede­n, das Spielsyste­m aus dem Nachwuchsb­ereich jetzt für den ganzen Klub gelten zu lassen“, sagte er zu seiner AmtsEinfüh­rung. Auf Deutsch heißt das: Wir machen das jetzt hier mal nach meinen Regeln!

➤ Titz hat die Spieler aus ihrem Elfenbein-Turm geholt. Trainiert wird jetzt nicht mehr nur auf abgeschott­eten Plätzen, sondern auch auf dem HSV-Campus, inmitten der Nachwuchs-Truppen. Gemeinsam gegessen wird in der Kantine. Und als manch einer im Verein anregt, das rituelle wöchentlic­he Essen beim Eck-Griechen sei nach dem Öffentlich-Werden des Ortes zu verlegen, weil dort ja nun Fans auftauchen könnten, sagte Titz nur: „Na, und? Die wollen uns doch nichts Böses!“

Nur, um es klarzustel­len: Ich fürchte nach wie vor, dass der HSV absteigen wird. Und es gibt auch nach wie vor eine Stimme in mir, die sagt: Besser wär’s. Weil dann dieser Uhr-Quatsch und dieser elende Dino-Kram endlich aufhören müsste. Und auch weil es gerecht wäre, nach all dem Unwürdigen der ganzen Jahre. Und weil die Gefahr, dass sonst doch alles wieder über kurz oder lang in alte Fahrwasser abdriftet, sonst zu groß ist.

Aber für den Moment genieße ich einfach, dass ich mal wieder jemanden uneingesch­ränkt gut finden kann beim HSV. Nicht weil er ein paar Spiele gewonnen hat, sondern aus Prinzip! Und dass der Verein Anstand zeigt und Kampfgeist und Spielwitz.

Es wäre übrigens völlig absurd, so einen Trainer gehen zu lassen, nur weil am Ende das Wunder ausbleibt. Insofern ist nach HSV-Tradition genau damit zu rechnen. Aber vielleicht überrasche­n sie uns ja mal ...

So einen gehen zu lassen, das wäre eigentlich typisch HSV – aber vielleicht überrasche­n sie uns ja mal ...

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Der Autor MAIK KOLTERMANN (43) ist stellvertr­etender Chefredakt­eur der MOPO und dem HSV in jahrzehnte­langer Hass-Liebe verbunden.

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