Verliert Moskau seinen nächsten Vasallen?
Nach dem Sturz des kremltreuen Regimes strebt das Land nach Europa ARMENIEN
ERIWAN - Geschichte wiederholt sich: Nach den Umbrüchen im Baltikum, Georgien und der Ukraine haben Proteste auch in Armenien einen kremltreuen Machthaber hinweggefegt. Eine marode Ordnung, die Moskau zu lange aus Eigeninteresse stützte, steht vor dem Fall. Morgen soll der Reformer Nikol Paschinjan Regierungschef werden.
Für den Kreml kamen die Ereignisse in Armenien unerwartet. Jüngst noch hatte Wladimir Putin seinem Favoriten Sersch Sargsjan zur „Wahl“als Regierungschef gratuliert. Doch vor allem bei den Jungen galt Sargsjan als Kopf einer Machtmafia, die für Stagnation, Heuchelei und sozialen Abstieg stand. Und für einen historischen Wortbruch, der an Putins Trickserei erinnerte. Weil nämlich Sargsjan nach zwei Amtsperioden als Präsident nicht ein drittes Mal kandidieren durfte, ließ er 2015 per Referendum die Verfassung ändern und verwandelte das Land von einer Präsidial- in eine parlamentarische Republik. Alle Macht lag fortan beim Ministerpräsidenten, der Präsident wurde zum Grußaugust degradiert. Erinnerungen an Putins „Rochade“mit Ministerpräsident Dmitri Medwedew wurden wach.
Den Verdacht, Sargsjan selbst strebe das Amt des nunmehr erstarkten Regierungschefs an, wies er von sich: Er werde nie kandidieren, versprach er. Das half dem Referendum zum Sieg.
Doch Sargsjan beging Wortbruch, die Leute rebellierten, vor einer Woche warf er hin, nachdem sich Militärs den Demonstranten angeschlossen hatten.
Für die Armenier ist das im Land stationierte russische Militär ein Überlebensgarant. Das christlich geprägte Land in einem muslimisch dominierten Umfeld im Südkaukasus befindet sich seit dem Krieg um die Enklave Bergkarabach, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber fast aus-
schließlich von Armeniern besiedelt und daher 1991 annektiert wurde, im Dauerkonflikt mit den Aserbaidschanern und deren Schutzmacht Türkei.
Armenien braucht Russland, will aber nicht länger wie eine Kolonie behandelt werden. Die Opposition – zu ihrer Symbolfigur wurde Nikol Paschinjan, der vermutlich morgen Regierungschef wird – strebt ein Partnerschaftsabkommen mit der EU an, das 2013 auf Moskauer Druck hin zu Gunsten des Beitritts zu Putins Eurasischer Union gecancelt wurde. Wie der erfolgreichere Nachbar Georgien strebt Armenien neben einem EU-Assoziierungsabkommen auch eine Polizeiund Gerichtsreform sowie Visafreiheit mit Europa an. Moskau ist alarmiert …