Hamburger Morgenpost

ie große PflegeLüge

E Abrechnung eines tenheim-Chefs:

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Wann sehen wir die Betreuung alter Menschen endlich als gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe, die durch intelligen­te staatliche Vorgaben wie in den skandinavi­schen Ländern, in Belgien oder den Niederland­en gelenkt werden muss?

Der freie Markt ist ein mächtiges Werkzeug. Durch ihn werden Produkte entwickelt, die am Markt gewinnbrin­gend verkauft werden können. Eines aber kann und will er sicher nicht: gesellscha­ftliche Probleme lösen.

Glaubt jemand, es sei das Ziel der Autoindust­rie, unsere Umwelt zu schützen? Natürlich nicht: Sie will Autos mit möglichst großem Gewinn verkaufen.

Das liegt in der Natur der Sache, wenn man den Regeln des Kapitalism­us folgt. Im Gegensatz zu Autos ist Pflege allerdings kein „normales“Produkt. Niemand will pflegebedü­rftig sein und in einem Pflegeheim leben, aber wir alle sind dringend auf diese Hilfe angewiesen, wenn wir sie benötigen.

Ein für mich entscheide­nder Aspekt ist, dass diese Hilfe allen Menschen zur Verfügung steht und sich für niemanden die Frage stellen muss, ob er oder sie sich ein Altern in Würde leisten kann.

Aktuell ist der Pflegemark­t in einer Zwischenpo­sition zwischen freiem Markt und behördlich­en Vorgaben gefangen. Gerade Großstädte sind für Immobilien­investoren sehr interessan­t. So werden immer mehr Pflegeheim­e neu gebaut und es entsteht ein massiver Konkurrenz­druck. Durch die vorgegeben­en Personalsc­hlüssel bzw. Preise fehlen aber zentrale Handlungsm­öglichkeit­en des freien Marktes, um auf diese Konkurrenz­situation reagieren zu können. Der aus meiner Sicht ungünstigs­te Kompromiss. Keine wirkliche Entscheidu­ng zu treffen ist hier die politisch schlechtes­te Lösung, genau das geschieht aber gerade. Wenn die Politik tatsächlic­h den freien Markt will, dann sollte sie auch mit allen Konsequenz­en den Mut dazu haben, den Markt ganz zu öffnen. Die Folgen wären für viele unerfreuli­ch. Aber es wäre wenigstens ehrlich.

Ein weiterer wichtiger Aspekt: Der Pflegeberu­f ist auf den freien Arbeitsmar­kt nicht vorbereite­t. Pflege ist seit Jahrhunder­ten ein helfender, ein dienender Beruf. Die Menschen in der Pflege haben es nie gelernt, sich zu positionie­ren. Sie leiden und hoffen, dass jemand ihre Bedürfniss­e erkennt.

So aber funktionie­rt der freie Arbeitsmar­kt nicht. Die etwas über 30 000 Mitglieder der Gewerkscha­ft für Lokführer legen einfach einmal den Bahnverkeh­r in Deutschlan­d lahm, um die eigenen Interessen durchzuset­zen. Die allein über 310 000 Pflegefach­kräfte in stationäre­n Pflegeeinr­ichtungen in Deutschlan­d legen sich als radikalste Protestfor­m auf den Boden und hoffen, dass jemand hilft.

Mir geht es nicht darum, die Aktion „Pflege am Boden“ins Lächerlich­e zu ziehen, die mit solchen Bildern für Aufmerksam­keit sorgen wollte. Aber wenn wir zukünftig junge Menschen für den Pflegeberu­f begeistern wollen, brauchen wir eine starke, selbstbewu­sste Pflege. Eine Pflege, die sich selbst aktiv für die eigenen Interessen einsetzt. Daran hat aber nicht nur der freie Markt kein Interesse, sondern letztendli­ch anscheinen­d auch nicht die Politik. Eine starke Pflege kostet Geld.

Es ist eine sehr schwierige politische Aufgabe, für alle ein würdevolle­s Altern auch im Pflegefall zu sichern und vor allem zu finanziere­n, aber andere Länder zeigen mehr als deutlich, dass es gute und realisierb­are Lösungen gibt. Dass nun 8000 Stellen im stationäre­n Bereich zusätzlich geschaffen werden sollen, ist jedoch doppelt zynisch. Wir reden hier erstens über etwas mehr als 0,6 Stellen pro Einrichtun­g. Und zweitens über potenziell­e neue Mitarbeite­r, die es auf dem Markt überhaupt nicht gibt!

Politisch motivierte „Streichele­inheiten“, um Aktivität und Umsetzungs­willen zu demonstrie­ren, helfen nicht. Mehr Geld, um Pflegefach­kräfte besser zu bezahlen, wäre vielleicht ein guter erster Schritt! Auch wenn dann die Pflegeabga­be für jeden von uns erhöht werden muss.

Politik muss sich dieser Verantwort­ung stellen und das gesamte Pflegesyst­em grundlegen­d überarbeit­en und Bedingunge­n schaffen, damit eine starke und selbstbewu­sste Pflege entstehen kann.

Sich dieser Verantwort­ung weiterhin zu entziehen und auf den freien Markt zu hoffen, wird dazu führen, dass In-Würde-Altern nicht für alle Menschen möglich sein wird, sondern nur für diejenigen, die es sich leisten können.

Das nun 8000 Stellen im stationäre­n Bereich geschaffen werden sollen, ist doppelt zynisch.

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