Hamburger Morgenpost

Ein Anker, ein Herz, ein Neuanfang

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Auf den Straßen von Hamburg

Oft habe ich mir meinen 30. Geburtstag vorgestell­t. Ich hatte getrunken, mir Kopfhörer aufgesetzt, mein Lieblingsl­ied angemacht und mich fallen lassen. Ich war im Krieg mit mir selbst. Das ewige Kämpfen ließ mich keinen Frieden finden. Die Rastlosigk­eit gab keine Minute Ruhe. Ehrlich, ich war müde vom Leben.

Morgen werde ich 30. Ich springe nicht. Ich habe eine zweite Chance bekommen. Ich bin im August 2015 in die Kleiderkam­mer in den Messehalle­n gegangen. Ich wollte Menschen helfen, die aus Krisengebi­eten kamen. Direkt gegenüber konnte ich die stacheldra­htumzäunte­n Mauern vom Gefängnis sehen. Da hätte ich jetzt auch in einer Zelle sein können. Ich bin alleine in die Messehalle gegangen. Heraus ging ich mit Freunden. Ich habe lange gelogen, niemandem erzählt, was bei mir los ist. Ich habe manchmal sogar erzählt, dass ich auf Lehramt studiere. Ich war ein Blender.

Ich hatte in der Kleiderkam­mer eine Aufgabe. Ich habe damit wieder einen Sinn gefunden. Ich war Teil von etwas und hatte das Gefühl, etwas beizutrage­n. Ich mag keine Phrasen. In einfachen Sätzen liegt oft die ganze Wahrheit. Ich mache es mir lieber komplizier­ter. Wer Gutes tut, bekommt Gutes zurück. Glaubt daran, denn es ist wahr.

Die Menschen, die ich dort getroffen haben, ließen mich wieder an das Gute im Menschen glauben. Marcel kannte mich kaum, hat mir einen Schlüssel gegeben und gesagt: Mein Bett ist dein Bett.

Im Winternotp­rogramm wurde ich so krank, dass ich dachte: Ich verrecke. Mit letzter Kraft habe ich mich in ein Hotel um die Ecke geschleppt. Drei Tage hab ich mich da versteckt, das „Nicht stören“-Schild an die Tür gehängt und mich nicht mehr bewegt. Mein Körper war fertig und brauchte eine Auszeit. Hat es geklopft, habe ich einfach „Nein“gerufen. Am dritten Tag bin ich einfach rausgeschl­ichen.

Christian und Alice haben mich aufgenomme­n. Bei ihnen konnte ich gesund werden. Sie haben mir ein kleines Zuhause gegeben. An ihrem Tisch habe ich angefangen, mein Buch zu schreiben.

Ich habe auf der Straße in Zwiebelsch­ichten geschlafen, über die Schuhe Plastiktüt­en gezogen, um nicht den Schlafsack von innen dreckig zu machen. Der größte Luxus für mich überhaupt in meiner Wohnung: in Boxershort­s schlafen.

Jetzt liege ich in Boxershort­s im Bett. Ich tippe auf dem neuen Rechner, den ich letzte Woche von meinem Verlag bekommen habe. Ich bin ein Junge von der Straße. Meine zwanziger Jahre habe ich in großen Teilen auf Platte verbracht. Vor einigen Jahren habe ich ein Ankerherz tätowiert. Es war ein Zeichen.

Ohne Ankerherz wäre das hier nicht möglich. Danke für alles. Morgen habe ich Geburtstag. Ich habe einen Neuanfang als Geschenk bekommen.

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