Warum mir so viele WM-Fans auf die Nerven gehen
Nichts gegen die Leidenschaft echter Fans, aber viele WM-Gucker sind SchönwetterFußball-Patrioten
Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Tag denselben Film sehen. Einen Film, den sie schon beim ersten Angucken doof fanden, und jetzt läuft der in einer Endlos-Schleife. So ist Fußballgucken für mich. Ein Spiel sieht aus wie das andere. Normalerweise ist diese partielle Unterscheidungsschwäche keine Beeinträchtigung – aber alle vier Jahre wird es um die kleine Gruppe der WM-Muffel herum sehr einsam. Und in diesem Jahr stößt mir eine Sache besonders übel auf.
Ich bewundere Menschen, die sich mit Schmackes in eine Leidenschaft werfen. Ob das nun Querflöte oder ein Fußballverein ist, egal. Wenn sich jemand von Kindesbeinen an für eine Sache begeistern kann und über die Jahre richtig viel Wissen und Können ansammelt, dann ziehe ich meinen Hut.
Fußballfans beneide ich sogar manchmal. Die gehen durch die tiefste Hölle und schweben in den höchsten Sphären, die erleben Emotionen in einer Intensität, die man als Nicht-Fan nur bewundernd zur Kenntnis nehmen kann. Es muss toll sein, wenn man vor Glück über ein Tor total ausflippen kann.
Also: Fußballfans sind super. Leidensfähige, treue Seelen sind das. Und Fußball ist ein toller Mannschaftssport, der bestimmt gut für die Charakterbildung ist. Aber es gibt Fans und es gibt die WM-Schönwetter-Fußballpatrioten, die genauso wenig Ahnung von Fußi haben wie ich, sich aber in das „WM-Fieber“hineinsteigern.
Vier Wochen lang muss ich bei jeder Anfrage
bezüglich geselligen Zusammenseins, egal ob Familie, Mädelsabend oder Vino mit Freunden, überprüfen, was da WM-mäßig los ist. Spielen „wir“? Sonst blicke ich in fassungslose Gesichter: „Was? Da ist das Spiel!“
Sogar meine junge Friseurin fragte mich neulich, ob ich „Team Ronaldo“oder „Team Messi“sei. Ich guckte ratlos und war froh, als die Kundin auf dem Stuhl nebenan sich zu Messi bekannte und die beiden sich angeregt über die familiären Hintergründe der beiden unterhielten. Naja. Bin ich halt für eine Weile sozial ein bisschen isoliert, kenn ich schon, macht nix. Jeder soll Spaß haben, und eine WM hat ja auch für Muffel feine Seiten. Viel Platz in Einkaufszentren und Wellnesstempeln etwa.
Aber etwas ist an dieser WM anders: Das Land hat unfassbar schlechte Laune. Nicht, dass ich die Fähnchen an Autos und Balkonen vermissen würde, aber es sind lange nicht so viele wie in den letzten Jahren. Stattdessen ergießen sich alle im begierigen Weitertrompeten diverser Deutschland-geht-vor-die-Hunde-Szenarien – und seien diese noch so wenig belegbar.
Was noch anders ist als vor vier Jahren: Alle quatschen ständig auf allen Kanälen, die sozialen Medien sind viel wichtiger geworden. Was mich ernsthaft verstört hat, war diese unverhohlene Häme der Schönwetter-Fans nach der ersten Niederlage. Unfassbar, was da an Niedertracht ausgekübelt wurde auf Facebook und in Whatsapp-Gruppen.
Und ich rede nicht von den Rassisten, die sich über die „Migranten-Mannschaft“auslassen. Nein, da kübelten ganz normale Leute, die vor dem Spiel noch ihren Hund mit Deutschlandfahne gepostet haben. Die tollen Helden waren nun die letzten Versager, die schon in der Vorrunde aus dem Turnier fliegen werden und das völlig zu Recht, diese Gurken. Was für wankelmütige Gestalten sind solche „Fans“bitte?
Dann kam der Sieg über Schweden (ja, ich gucke kein Spiel, aber die Ergebnisse kriege ich schon mit) und – zack! – jubelten dieselben Leute auf denselben Kanälen so frenetisch, als hätten sie nie etwas anderes getan, als der Mannschaft den Rücken zu stärken und fest an das Weiterkommen zu glauben. Das ist emotionaler Extremismus, der kein Maß und keine Mitte kennt – und damit erschreckend sinnbildlich für unsere überdrehte Zeit steht.