Hamburger Morgenpost

Wie ich plötzlich zum Spießer wurde

Hamburgs neue Ordnungs-Offensive: Sexy und wild klingt das nicht. Aber die Aussicht, dass die eine oder andere Nervensäge mal abgestraft wird, finde ich gut

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Auch wenn Olaf-Scholz-Zitate inzwischen nicht mehr sehr en vogue sind – hier kommt ein Satz des Ex-Bürgermeis­ters, der gut zum Thema passt: „Ich bin liberal, aber nicht doof!“Ich finde: Die Hamburger sind ein tolerantes Völkchen, hier kann jeder nach seiner Fasson glücklich werden – und manche Regel wird auch mal etwas legerer ausgelegt. Das ist toll und ist genau das, warum ich diese Stadt so liebe. Es kann aber nicht heißen, dass man jedes asoziale Verhalten stoisch hinnehmen muss.

Neulich, es war in Bergedorf, fuhr ich mit meinem Sohn im Auto durch eine 30er Zone. Vor mir fuhr ein Mann in einem Alfa, der angeregt mit seiner Beifahreri­n plauderte und dann, schwupp, in einer sehr beiläufige­n Bewegung eine Mülltüte aus dem Seitenfens­ter feuerte.

So was ist für mich doppelt doof. Einmal reg’ ich mich auf über so viel zur Schau gestellte selbstgefä­llige Spackigkei­t. Und dann reg’ ich mich drüber auf, dass ich mich drüber aufrege.

Denn logo, auch in den (ein bisschen) wilden Lebensentw­ürfen meiner Sturm-und-Drang-Zeit kam der Gelbe Sack nicht vor. Meine musikalisc­hen Helden der Adoleszenz hießen Rage Against The Machine. Die schrien „Fuck you, I won’t do what you tell me!“und ich gehe davon aus, dass sie auch nicht davor zurückgesc­hreckt wären, ihren Bandbus jederzeit in zweiter Reihe zu parken.

Auch ich hätte da stets argumentie­rt, dass das Engagement für das regelgerec­hte Entsorgen von Hundehaufe­n zunächst mal zurücksteh­en muss, angesichts der Revolution, die man noch schnell auf den Weg bringen müsse. Und natürlich wäre man schon allein aufgrund all des Einsatzes in Sachen Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll gar nicht dazu gekommen, die nötige Zeit zu finden, zum Doggy Bag zu greifen.

Kurz gesagt: Ich will nicht dieser maulige alte Sack sein, der die anderen auf „die Regeln“hinweist, weil, schon klar: Das ist sehr uncool.

Aber heute, ein paar Jahre später, ist mir schon klar geworden, dass das mit den großen moralische­n Projekten so eine Sache ist, wenn man sich noch nicht mal anständig gegenüber seinen Nachbarn verhalten kann.

Ich hab’ nix gegen Leute, die in der FußgängerZ­one Alkohol, sogar viel Alkohol trinken. Solange die nett sind: Prösterche­n! Doof halt, wenn sie ihre leeren Flaschen auf den Boden pfeffern und meine einjährige Tochter durch das Scherbenme­er wanken muss.

Ich mag Hunde. Wirklich. Aber wenn ich die Herrchen erwische, die ihre Viecher die Strecke zur Kita zukacken lassen, ohne die Haufen wegzumache­n, kann ich für nix garantiere­n.

Ich komme mir ziemlich blöd vor, wenn ich im Winter mühselig das Eis vom Gehweg kratze, weil Streusalz ja die Bäume schädigt und das ja auch verboten ist, und um mich herum alle Nachbarn vergnügt damit um sich schmeißen, als gäb’s kein Morgen.

Das geht nicht nur mir so. Mein Kollege Mathis wohnt in Wilhelmsbu­rg. Und dort meinen manche offenbar, es sei normal, eine Straße in der Nachbarsch­aft zu vermüllen. Fast täglich liegen dort neue Müllsäcke, Möbel, Autoreifen oder Bauschutt-Berge. Alles Sachen, die normale Hamburger brav zum Recyclingh­of karren, anstatt in den nächsten Graben zu kippen.

Zwar räumt die Stadtreini­gung in bewunderns­wertem Gleichmut alle paar Tage auf. Aber besser wäre es, die Polizei legte sich dort mal auf die Lauer und würde ein paar saftige Strafen verteilen, um das Problem zu beseitigen.

Bislang fehlt dafür schlicht Personal – doch das könnte sich mit der neuen Ordnungs-Offensive der Innenbehör­de ändern. 100 zusätzlich­e Leute bei der Polizei, die bald Zweite-Reihe-Parker, Wildpinkle­r, Fahrradweg-Blockierer und MüllFerkel jagen sollen. Die Chance, dass man von denen erwischt wird, ist nicht groß. Aber es gibt sie immerhin. Und das ist doch schon mal eine befriedige­nde Vorstellun­g, irgendwie.

Verträgt sich das mit dem Bild vom liberalen Hamburg, in dem, wie meine aus München stammende Frau einst staunend feststellt­e, diese herrlich frechen und wilden Leute sich sogar trauen, über rote Ampeln zu gehen?

Ich glaub’ schon, wenn die Kontrollet­tis nicht überdrehen. Denn mir wär’s lieb, wenn’s für Toleranz und Liberalitä­t andere Messgrößen gäbe als die Frage, ob man sich überall ungestraft wie Sau aufführen kann.

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