Hamburger Morgenpost

Politik darf nicht glauben, sie stehe über dem Gesetz

Wir dürfen uns in Deutschlan­d keine Trumps, Orbáns oder Erdogans leisten, meint der Parteichef der Grünen

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Sami A., mutmaßlich­er Leibwächte­r von Osama bin Laden, war über Jahre im Visier der Sicherheit­sbehörden. Eingestuft als Gefährder, also jemand, von dem die Sicherheit­sbehörden aufgrund bestimmter Tatsachen damit rechneten, dass er schwere Straftaten begeht. Etwa 770 Gefährder bundesweit gibt es laut Verfassung­sschutzber­icht. Darunter auch Jugendlich­e und Frauen. Zwei Drittel der Gefährder sind Deutsche oder EU-Bürger. Erstere können logischerw­eise nicht abgeschobe­n werden, Letztere schwerer. Bei allen anderen dagegen ist die Abschiebun­g leichter.

Das halte ich für gerechtfer­tigt, wenn es darum geht, tatsächlic­he Gefahren abzuwehren. Man braucht mit solchen Gefährdern kein Mitleid zu haben. Allerdings gilt auch bei Gefährdern der Rechtsstaa­t. Gerade in unliebsame­n Fällen zeigt sich, wie stark er ist – mit seiner Gewaltente­ilung und der Überprüfba­rkeit von Entscheidu­ngen. Politik darf auch da nicht glauben, sie stehe über dem Gesetz.

Doch genau das scheint im Fall Sami A. passiert zu sein. Das zuständige Verwaltung­sgericht prüfte gerade einen Antrag auf Abschiebev­erbot. Es hatte vom BAMF die Zusage verlangt, dass der Tunesier nicht vor einer Entscheidu­ng außer Landes geschafft werde. Aber die dem Bundesinne­nministeri­um unterstell­ten Behörden sowie die des Landes Nordrhein-Westfalen machten genau das: Sie schoben ihn ab, am Gericht vorbei. Sami A. hätte aber laut Gericht wegen Foltergefa­hr in Tunesien nicht abgeschobe­n werden dürfen.

Ich war sechs Jahre lang Minister, und wenn Urteile anstanden, etwa beim Luftreinha­lteplan, wurde ich zu Recht von Beamten gebremst, damit ich dem Gericht nicht vorgreife. Bei einem Fall wie Sami A., bei dem sich der Bundesinne­nminister öffentlich für die Abschiebun­g ausgesproc­hen hat und sagte, die Spirale der Gerichtsen­tscheidung­en müsse durchbroch­en werden, kann ich schwer glauben, dass die Behörden ohne Kenntnis des Ministers entschiede­n haben. Noch mal: Ich habe keine Sympathie für Sami A. Aber wir dürfen uns keine Trumps, Orbáns oder Erdogans leisten, die glauben, sie seien das Recht.

Die Alternativ­e zum Agieren am Rechtsstaa­t vorbei wäre, dass die Ministerie­n und die nachgeordn­eten Behörden miserabel geführt sind. Dafür gibt es Hinweise: Jüngst wurde ein Afghane wegen eines Fehlers des BAMF rechtswidr­ig abgeschobe­n. Auch die Aufklärung des BAMFSkanda­ls und die Stärkung der Behörde bleiben aus – Horst Seehofer spielt lieber sein Ablenkungs­spiel: Er holt neue Probleme hervor, statt alte zu lösen. So auch die Diskussion um die sicheren Herkunftsl­änder.

Im Fall Sami A. bezweifelt­e das Gericht, dass ihm in Tunesien keine Folter droht. Tunesien ist nun mit Marokko und Algerien zur Ausweisung als sicherer Herkunftss­taat vorgeschla­gen. Wenn ein Staat als sicher gilt, gibt es zwar noch immer ein individuel­les Asylverfah­ren, aber eingeschrä­nkten Rechtsschu­tz. Die Ausweisung von Staaten als „sicher“soll laut Bundesregi­erung bei hohen Zahlen von Asylbewerb­ern die Asylverfah­ren beschleuni­gen.

Bei den drei Maghreb-Staaten ist das anders. Die Debatte kam nach der Silvestern­acht 2015/16 mit massiven Übergriffe­n auf Frauen auf. Die Hälfte der Tatverdäch­tigen war algerische­r, marokkanis­cher oder tunesische­r Herkunft. Junge Männer aus Nordafrika sind Studien zufolge häufiger kriminell als Bürgerkrie­gsflüchtli­nge aus Syrien oder anderen Staaten. Das ist ein Problem. Aber dieses Problem wird nicht gelöst, indem wir ihre Herkunftsl­änder für sicher erklären. Als weiterer Grund, die Maghreb-Staaten als sicher auszuweise­n, wurden schnellere Abschiebun­gen genannt. Auch da hilft das aber nicht. Denn die Rückführun­gen scheitern an Problemen wie fehlenden Passersatz-Dokumenten und nicht funktionie­renden Rücknahmea­bkommen.

Und dann ist da die Frage, ob die MaghrebSta­aten überhaupt als sichere Herkunftss­taaten eingestuft werden können. Laut Verfassung­sgericht geht das nur, wenn in den Ländern „allgemein“– also grundsätzl­ich überall und für alle – „keine politische Verfolgung“herrscht und „keine unmenschli­che oder erniedrige­nde Bestrafung oder Behandlung“stattfinde­t. Wie im Fall Sami A. beschriebe­n, bezweifelt mindestens ein Gericht in Deutschlan­d, dass in Tunesien nicht gefoltert wird. Für Algerien und Marokko ist die Lage eher noch kritischer.

Die Bundesregi­erung würde ihren Job machen, wenn sie nicht panisch, getrieben und innenpolit­isch motiviert Länder für sicher erklären würde, auch wenn sie es nicht sind, sondern allgemeine nachvollzi­ehbare Kriterien entlang der Rechtsprec­hung des Verfassung­sgerichts entwickeln würde. In Zeiten der Unvernunft müssen wir zur Vernunft zurückkehr­en. Und in Zeiten der Aushöhlung des Rechts von rechts den Rechtsstaa­t verteidige­n.

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