Flug-Unterricht für kleine Waldrappe
Ziehmama bringt den seltenen Vögeln die Orientierung beim Fliegen bei
ÜBERLINGEN - Das Fliegen klappt schon ganz gut. Zu gut vielleicht, denn der Vogelnachwuchs ist verschwunden. Eben noch kreisten 31 schwarzgefiederte Waldrappe über einem Maisfeld nahe der Bodenseestadt Überlingen. Nun ist dort nur noch ein kleines Ultraleichtflugzeug mit gelbem Gleitschirm zu sehen.
„Kommt, kommt, Waldis, kommt“, schallt die Stimme der Co-Pilotin über die Äcker. Wenn die Vögel auf irgendjemanden hören, dann auf ihre Ersatz-Mama AnneGabriela Schmalstieg. Sie soll die in Zoos geschlüpften Waldrappe mit dem Flugzeug über die Alpen ins Winterquartier in der Toskana führen. Zwar sind Waldrappe Zugvögel, doch ohne Hilfe orientierungslos. Ältere Vögel zeigen ihnen den Weg – oder eben der Mensch.
Auf den ersten Blick braucht es schon ein Mutterherz, um den Waldrapp lieb zu gewinnen. Der Ibisvogel ist etwa so groß wie eine Gans. Sein Schädel ist kahl bis auf einen wirr abstehenden Federschopf, bedrohlich lang neigt sich sein schlanker Schnabel nach unten.
Seit 400 Jahren hat es keine Waldrappe am Bodensee mehr gegeben. In Europa waren sie ausgerottet. Zum Verhängnis wurde ihnen vor allem ihre Zutraulichkeit – und wohl auch, dass sie gut schmecken. Seit 2002 gibt es Bestrebungen, den Waldrapp wieder anzusiedeln.
Seit Mitte Mai wohnen Schmalstieg und eine zweite Ziehmutter mit den wenige Wochen alten Vögeln in der Nähe von Überlingen. Bis zu zwölf Stunden täglich verbringen sie mit ihnen in einer großen Voliere. Das zweite Jahr in Folge versuchen sie hier, Jungvögel an die Gegend und vor allem an das Fluggerät zu gewöhnen.
„Sie werden uns ein Leben lang als Zieheltern erkennen“, sagt Schmalstieg. Wie stark ihre Beziehung ist, entscheidet über den Erfolg. Denn der steht und fällt damit, ob die Waldrappe ihren Ersatzeltern folgen werden. Die Tiere machen Fortschritte, doch sie sind noch eigenwillig. Ab Mitte August sollen die Tiere ins 1000 Kilometer entfernte Winterquartier begleitet werden.
„Wir haben hier die einmalige Chance, eine fast ausgestorbene Art wieder anzusiedeln“, erzählt Ornithologe Peter Berthold, der die Ansiedlung am Bodensee mit initiiert hat. Der Waldrapp sei derart bedroht, dass es ohne menschliches Zutun bereits in fünf Jahren weltweit keine freilebenden Tiere mehr geben könnte. Dennoch sollen es im nächsten Jahr schon wieder 120 sein.