Hamburger Morgenpost

Vater, bring mich nicht um!

Jahrelang wurde Martina von ihrem Vater misshandel­t. Einmal prügelte er sie gar ins Koma. Im Alter von 18 floh sie. Zurück bei den Eltern blieb ihre zwölf Jahre jüngere Schwester. Sie wurde an ältere Freier verkauft. Heute ist Martina Ende 50. Wie geht si

- Von ANNE-KATTRIN PALMER

Martina ist sechs Jahre alt, als sie beschließt zu sterben. An der Eisenbahnb­rücke, an der sie jeden Tag auf dem Weg zur Schule vorbeigeht, stellt sie achtsam ihren Ranzen ab und hangelt sich auf die Brüstung. Gleich muss der Zug kommen, von dem sie überrollt werden möchte. Sie weint.

Martina erinnert sich noch heute, wie sie sich ständig hektisch umgedreht hat, um zu gucken, ob ja niemand vorbeigeht.

Plötzlich steht eine Frau hinter ihr. Eine junge Mutter, sie schiebt einen Kinderwage­n neben sich her. Ganz nah stellt sie sich zu Martina ans Brückengel­änder, behutsam greift sie nach dem Arm des Mädchens. Sie redet leise und liebevoll auf sie ein.

„Sie hat es geschafft, dass ich von dem Geländer runtergekl­ettert bin“, sagt Martina. Und sie fügt hinzu: „So viel Liebe hatte ich bis zu diesem Moment noch nie erfahren. Ein Erwachsene­r hatte Empathie und kümmerte sich um mich.“

Heute, fast 50 Jahre später, ist sie der Frau von damals dankbar. „Sie war ein rettender Engel“, sagt sie.

Martina ist zierlich. Sie trägt ein dezent braun gemusterte­s Kleid, die blonden Haare fallen ihr über die Schulter. Sie hat ein wenig Lippenstif­t aufgelegt. Man sieht ihre Narben nicht, die ihr in der Kindheit zugefügt worden sind. Sie hat gelernt, sie zu verbergen.

Wir treffen sie in einem Berliner Café. Sie begrüßt uns herzlich, fragt, was wir trinken möchten. Sie lächelt sehr oft. Unweigerli­ch fragt man sich: Wie konnte es diese lebensfroh­e, optimistis­ch wirkende Frau treffen? Warum ist sie nicht am Boden zerstört? Warum sieht man ihr das nicht an?

Diese Frau wirkt wie eine Kämpferin. Sie weiß das. „Ich habe immer Angst gehabt, dass andere mir irgendetwa­s anmerken oder ich es auf der Stirn stehen habe. Ich habe es immer versteckt, ich wollte das nicht sichtbar machen. Das, was passiert ist.“

Aber sie habe sich auch nie unterkrieg­en lassen. Das liege an ihren rheinische­n Wurzeln, sagt sie und lacht. Aufstehen, sich schütteln, auch wenn man noch so tief im Schlamm gesteckt hat. Vermutlich habe ihr

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